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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will
Autoren: Claire Seeber
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jetzt schon hinter mir. Wie sehr ich sie jetzt dafür liebte, dass sie in allem immer das Positive zu sehen suchte. Das hatte uns näher zusammenrücken lassen, und das war das Gute an diesen elf Tagen Hölle.
    Dann lag ich wieder auf dem Sofa in Louis’ Zimmer und starrte ins bleiche Mondlicht, das den ganzen Raum ausfüllte. Plötzlich schien alles zu passen. Ich fragte mich, ob ich Mickey wecken sollte. Dann wurde mir klar, dass ich einfach nicht so gerne viel redete. Während mir all das durch den Kopf ging, schlief ich wieder ein.
    Morgens wachte ich recht früh auf, sogar noch vor Louis, was dieser Tage selten vorkam. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, als hätte jemand auf mich herabgeblickt, doch ich schüttelte es gleich ab. Steif von der ungewohnten Nacht auf dem Sofa ging ich ins Gästezimmer, um zu duschen. So weckte ich Mickey wenigstens nicht auf. Ich schaltete das Radio ein und kam auf einen Oldie-Sender. Ich sang einen Song aus den Siebzigerjahren mit, der mich an Dad erinnerte. »Hübsche Beine, kein Gesicht«, hatte er immer aus dem Fenster geschrien, wenn wir im Cortina an miniberockten Mädchen vorbeigekommen waren. Natürlich nur, wenn Mama nicht dabei war. Ich und Robbie und Leigh brachen dann in amüsiertes Gelächter aus und duckten uns auf dem Rücksitz, wenn die erschrockenen Mädchen sich umdrehten.
    Als ich aus der Dusche kam, fühlte ich mich frischer. Es war Zeit, bestimmte Dinge zu klären. Ich hüllte mich in ein großes, weißes Handtuch und ging zurück in Louis’ Zimmer, um nachzusehen, ob es ihm gut ging. Nur war er nicht in seinem Bettchen. Also ging ich in unser Schlafzimmer, immer noch tropfnass, um nachzusehen, ob Mickey ihn vielleicht ins Bett geholt hatte, aber dort waren die beiden auch nicht.
    Also rief ich nach unten, aber da kam nichts, keine Antwort, gar nichts. Ich lief nach unten. Jean kam durch die Vordertür herein, und ich sagte Hallo zu ihr, als ich in die Küche stürzte. Die Hintertür stand offen. Ich trat in den Garten hinaus und schrie: »Mickey, wo zum Teufel bist du?« Aber er antwortete nicht, und der Garten war leer, nur Agnes’ verdammte Rosen waren da und warfen ihre letzten Blütenblätter ab wie Tränen. Ich fröstelte im leichten Septemberwind, als ich merkte, dass Mickey weg war und dass er Louis mitgenommen hatte. Und ich spürte den Zorn in mir aufsteigen. Ich war wütender, als ich je in meinem Leben gewesen war. Denn wo immer er ihn auch hingebracht hatte, Mickey wusste genau, dass ich damit nicht fertig werden würde, nicht jetzt, eigentlich überhaupt nicht mehr. Der Schmerz tobte in mir, als hätte man Louis aus mir herausgerissen. Ich keuchte allein von der Anstrengung, die Ruhe zu bewahren.
    Dann lief ich, immer noch nur mit dem Handtuch bekleidet, durchs Haus. Ich sah, dass Mickeys Wagen nicht in der Einfahrt stand. Das Herz blieb mir stehen. Ich fragte Jean: »Wissen Sie, wo Mr Finnegan hin ist?«, doch sie schüttelte nur den Kopf und sah erneut verängstigt drein. Wie ich. Wie beim letzten Mal. Wie beim letzten Mal, verdammt. Schon wieder!
    In Sekunden war ich in meinen Sachen und hackte Mickeys Mobilfunknummer ins Telefon. Dann sah ich, dass sein Handy auf meinem Frisiertisch lag.
    »Tu mir das nicht an, Mickey. Bitte, tu mir das nicht an«, murmelte ich und stürzte, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich wusste, wo die beiden waren.
    Ich steuerte den Wagen quer über die Heide und durch die großen schmiedeeisernen Tore in den Greenwich Park, wo das Observatorium mit dem runden Dach stand. Wir hatten immer gescherzt, dass wir eines Tages dort leben würden. Im Laufschritt rannte ich übers Gras, durch das alte Jagdrevier von Heinrich VIII., unter Kastanienbäumen hindurch, wobei ich auf Blätter und stachlige, abgeworfene Früchte trat.
    Ich konnte die Statue von hier aus nicht sehen. Mickeys Lieblingsstück in London, natürlich, eine frühe Arbeit von Henry Moore, die auf einem Hügel stand. Schließlich kam die Skulptur in Sicht, die Bank aber, auf der Mickey so gerne saß, war immer noch nicht einsehbar, weil ein älteres Paar davor im noch schwachen Sonnenlicht Tai Chi übte.
    Und dann sah ich sie, die hohe Gestalt in der Ferne. Mein Herz klopfte wie verrückt. Es war Mickey. Er musste es einfach sein. Und in seinen Armen lag Louis. Glücklicherweise. Er stand stocksteif neben der Skulptur. Beide sahen sie auf London hinab, über die Bäume hinweg nach St. Pauls
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