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Mordsidyll

Mordsidyll

Titel: Mordsidyll
Autoren: Dirk Zandecki
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zunächst waren wieder die Tiere an der Reihe.
    Nachdem alle Kühe gemolken waren, füllte Anna aus dem großen, gekühlten Edelstahltank vier Eimer mit frischer Milch ab und trug sie zu dem separaten Stall, in dem sie ihre vier Kälber aufzog. Als sie über die Schwelle trat, ging ihr sofort das Herz auf. Die kleinen Rinder schauten sie wie zu groß geratene Steifftiere aus runden Augen erwartungsvoll an. Die Aufzucht der Kälber war der schönste Teil ihrer Arbeit. Der Lohn für alle Mühe. Anna tätschelte die Köpfe der Tiere und ließ sich die Handgelenke von ihnen ablecken, bevor sie die Tränkeimer am Rand der Box aufhängte. Sofort begannen die Kleinen, daran zu saugen.
    Mit einem Seufzen verließ Anna den Stall und schlenderte zum Haus hinüber. Sie liebte zwar das bäuerliche Leben mit den Tieren, doch blieb ihr für die schönen Tätigkeiten immer zu wenig Zeit. Auch machte ihr nach wie vor der typische Landgeruch zu schaffen. Trotz ihres abendlichen Waschgangs blieb er an ihr haften, sodass sie schon lange kein Parfüm mehr benutzte. Wozu auch, was brachte schon eine Mischung aus Scheiße und Chanel?
    Während sie die Gummistiefel auszog, betrachtete sie die bemalten Milchkannen vor der Eingangstür des Bauernhauses. Bald würden darin üppige Geranien blühen. Sie waren als erste dekorative Elemente gedacht gewesen, mit denen Klaus und sie den Hof in ein idyllisches Ferienparadies für Gäste hatten verwandeln wollen. Heute waren sie nur ein Überbleibsel unvollendeter Pläne, von denen die Farbe abblätterte. Ein Mahnmal, das sie daran erinnerte, was sie alles ohne Klaus nicht mehr bewerkstelligen konnte.
    Bevor ihr die Tränen kamen, wandte sich Anna ab und öffnete den Briefkasten. Werbung und das wöchentliche Anzeigenblatt flatterten ihr entgegen. Gott sei Dank keine neuen Rechnungen.
    Sie griff sich die Post und ging in ihr Arbeitszimmer, wo sie kurz nachschaute, ob jemand auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Keine neuen Nachrichten. Auch im E-Mail-Eingang fand sie gähnende Leere vor. Unentschlossen blieb sie an ihrem Schreibtisch sitzen. Um sich ein warmes Essen zuzubereiten, fehlte ihr heute die Muße. Anderseits knurrte ihr der Magen.
    Mit der Post unter dem Arm ging sie in die Küche, setzte einen Kaffee auf und belegte sich ein dick mit Butter bestrichenes Brot mit Käse. Während sie kaute, öffnete sie die Glastür des Schrankes. Als sie ihre Tasse herausnahm, begann ihre Hand plötzlich zu zittern. Sie hielt kurz inne und dreht sich dann langsam zum Tisch, um sich den Kaffee einzugießen. Wie ein Blitz schossen die Bilder des Morgens durch ihren Kopf. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, sie bebte so stark, dass der Kaffee überschwappte. Sie setzte sich, legte ihre Hände auf die geblümte Plastiktischdecke und atmete tief ein und aus. Es war bestimmt nur der Schock. Langsam entspannte Anna sich.
    Sie griff erneut nach der Tasse und führte sie mit beiden Händen fest umklammert zum Mund. Als sie einen Schluck zu sich genommen hatte, breitete sich sofort Wärme in ihrem Körper aus. Das tat gut. Ihr Kaffee war ihr heilig. Für diesen einen Moment ließ sie alles ruhen. Einfach dasitzen und die Ruhe genießen. Das waren kleine Augenblicke des Luxus, die sie sich gönnte und die sie brauchte.
    Nachdem Anna die Tasse geleert hatte, entfaltete sie das Anzeigenblatt, um die Regionalnachrichten zu überfliegen. Ein Brief fiel heraus und landete ausgerechnet in der Kaffeepfütze. Müde nahm sie ein benutztes Geschirrhandtuch, das über der Spüle hing, und wischte die Lache auf. Als sie den Brief trocken rieb, verschmierte sie die Adresse. Trotzdem erkannte sie die Handschrift sofort. Wieder begann sie zu zittern.
    Â»Ruhig bleiben!«, befahl sich Anna laut und riss energisch den Umschlag auf.

    Sehr geehrte Frau Lobbisch,

    verzeihen Sie bitte meine Aufdringlichkeit. Obwohl ich mir vorgenommen habe, Sie in Ruhe zu lassen, geht es einfach nicht. Nach wie vor bin ich im Gefängnis, denn ich werde nun doch erst am 24. April entlassen. Es gab offensichtlich einen Fehler in der Datenverarbeitung, vielleicht ist das etwas Genugtuung für Sie. In den letzten Tagen, die ich unvorhergesehen noch hinter Gitter verbracht habe, ist mir eines klar geworden: Ich kann nach meiner Entlassung nicht einfach ein neues Leben beginnen. Bitte geben Sie mir die
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