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Mordsidyll

Mordsidyll

Titel: Mordsidyll
Autoren: Dirk Zandecki
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Bushaltestelle liefen und sich leise unterhielten. Schnell ging sie ein paar Schritte nach hinten in den Schutz der Unterführung, damit die Passantinnen sie nicht sehen konnten. Ungeduldig spähte sie immer wieder zu ihnen hinüber. Endlich traf der Bus ein und nahm die beiden Damen mit. Als er an der Unterführung vorbeifuhr, presste Anna sich eng an die Wand und blickte zu Boden. Dann war sie wieder allein. Anna schaute auf die Uhr: Es war gleich Viertel vor elf. Lange konnte sie nicht mehr bleiben, die Kühe mussten versorgt werden, daran gab es nichts zu rütteln. Obwohl die meisten Bauern aus dem örtlichen Verband anderer Meinung waren, hielt sie daran fest, drei- statt zweimal täglich abzumelken.
    Anna beschloss, langsam in Richtung Gefängnis zu gehen, als sich plötzlich etwas am Eingang regte. Gespannt hielt sie den Atem an und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Gefängnistür öffnete sich und ein junger Mann mit einer Sporttasche auf der Schulter trat heraus. Er blieb stehen, um den Kragen seiner Lederjacke hochzuschlagen und seine dunkle Wollmütze bis zu den Augenbrauen hinunterzuziehen. Anna musterte ihn. Ihr Puls begann zu rasen. Zuletzt war sie Mazcevski vor fünf Jahren im Gerichtssaal begegnet, doch auch danach hatte sein Konterfei sie in zahlreichen Zeitungsberichten verfolgt. Er hatte sich verändert, aus dem hageren Jüngling mit dem affigen Ziegenbärtchen war ein kräftiger junger Mann geworden. Überhaupt hatte er während der Haft markantere Züge bekommen. Bestimmt hatte er die Jahre dazu genutzt, Bodybuilding zu betreiben, wie alle im Knast. Anna schnaufte abfällig. Da stand er nun, der Mörder ihres Mannes   – in Freiheit und durchtrainiert, als wäre nie etwas gewesen!
    Mit einem unschuldigen Blick schaute der junge Mann unschlüssig umher. Anna hatten seine flehentlich bettelnden Rehaugen während der gesamten Prozesstage gequält. Nun suchten sie offensichtlich etwas Bestimmtes. Vermutlich hatte er damit gerechnet, abgeholt zu werden. Ruckartig wuchtete er die Sporttasche über seinen Kopf, offensichtlich um sich vor dem feinen Regen zu schützen, und setzte sich in Bewegung. Statt zur Bushaltestelle zu gehen, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein.
    Mit einem Schlag fielen von Anna alle Angst und Nervosität ab. Wie in Trance nahm sie die Verfolgung auf. Ähnlich einem Déjà-vu-Erlebnis beschlich sie das Gefühl, das Geschehen bereits erlebt zu haben. Sie sah die ganze Szene wie ein gestochen scharfes Schwarz-Weiß-Foto vor sich, als ob der Regen die Farben aus dem Tag gewaschen hätte. Die Umgebung um sie herum nahm sie nur schemenhaft war, ihr Blick war fest auf seinen Rücken gerichtet. Schnell schloss sie zu ihm auf, kam Meter für Meter näher. Im Gehen öffnete sie ihre Tasche und ließ ihre Hand hineingleiten. Sie hatte erwartet, dass sie aufgeregt sein und zittern würde. Sie hatte damit gerechnet, dass sie in letzter Sekunde ihr Vorhaben abbrechen würde. Doch nun waren es nur noch wenige Schritte. Sie konnte das Leder seiner feuchten Jacke bereits riechen. Der Griff des Messers lag warm in ihrer Hand.
    Als er zum Greifen nahe war, zog Anna das Messer aus der Tasche. Mit einem Satz sprang sie nach vorn und rammte ihm das Messer mit aller Kraft in den Rücken. Beim Ausmisten der Ställe hatte sie sich diesen Moment viele Male ausgemalt. Immer wenn sie die Mistgabel in das verklumpte Heu gestochen hatte, hatte sie ihn vor sich gesehen. Sie war sich sicher gewesen, dass es sich genau so anfühlen würde. Aber es war anders. Die Spitze des langen, scharfen Jagdmessers glitt mühelos durch die Lederjacke, doch dann spürte Anna einen Widerstand. Das Messer traf auf etwas Hartes und drang nicht bis zum Schaft ein. Dennoch stürzte ihr Opfer durch die Wucht ihres Angriffs nach vorn. Mit den Händen über dem Kopf an der Sporttasche prallte der junge Mann ungebremst mit der Stirn gegen die Bordsteinkante und blieb regungslos liegen.
    In diesem Augenblick empfand Anna weder Triumph noch Mitleid. In ihr war nur eine große Leere. Wie gelähmt betrachtete sie die Gestalt auf dem Boden. Es war kaum Blut zu sehen. War er wirklich tot? Sie hatte mit einer Lache gerechnet.
    Anna bückte sich und stupste den Körper an, doch nichts geschah. Der junge Mann lag wie ein nasser Sack in der Gosse und bewegte sich nicht mehr. Als Anna
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