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Mordsidyll

Mordsidyll

Titel: Mordsidyll
Autoren: Dirk Zandecki
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schauen.
    Anna richtete ihren Blick auf ihre schwarze Handtasche, die sie auf ihrem Schoß krampfhaft festhielt, sodass sich ihre Fingerknöchel weiß färbten. Ihre schwieligen Hände waren von der harten Arbeit gezeichnet. Nichts erinnerte mehr an die schönen, gepflegten Finger der Chefsekretärin von einst, dachte Anna wehmütig. Zumindest hatte sich ihre Figur nicht verändert. Dass ihr Körper durch das jahrelange Training als Triathletin beim TV Buschhütten drahtig war, war bei der Arbeit auf dem Hof von Vorteil. Allerdings schmerzte ihre linke Schulter, eine alte Sportverletzung, von Zeit zu Zeit höllisch. Da sie sie täglich belasten musste, schlug ihr der Arzt immer wieder ein künstliches Gelenk vor. Aber wer wollte sich schon mit gerade einmal 46 Jahren Ersatzteile einpflanzen lassen? Sie hatte es eben nicht anders gewollt. Und obwohl das Leben auf dem Land anstrengend und voller Entbehrungen war, fühlte sie sich so frei wie nie zuvor. Sie gehörte einfach auf einen Bauernhof – auch ohne Klaus.
    Â»Justizvollzugsanstalt Ewig.« Die Busansage riss Anna aus ihren Gedanken.
    Hastig wischte sie sich mit der Hand die Tränen aus den Augen und verließ mit gesenktem Kopf den Bus. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, direkt hier auszusteigen, überlegte sie. Sie blickte zum ursprünglichen Gefängnisbau hinüber, der auf dem Gelände des früheren Klosters ›Ewig‹ errichtet worden war, und dem neueren Komplex daneben. Während Ersterer wie ein kleines Schloss wirkte, vermittelte Letzterer den Eindruck eines eleganten, modernen Vier-Sterne-Hotels. Die gesamte Anlage lag hinter dem Staudamm der Biggetalsperre, eingebettet in ein idyllisches Waldgebiet. Nur die hohe Betonwand mit dem Stacheldraht auf der Mauerkrone ließ erahnen, dass dies eine Justizvollzugsanstalt war. Nicht umsonst nannte man sie im Volksmund ›Hotel Ewig‹, dachte Anna bitter. Angesichts der imposanten Architektur empfand sie ihr Schicksal noch ungerechter als ohnehin schon. Wie mochte es wohl drinnen aussehen? Gab es etwa helle Räume statt dunkler Zellen mit vergitterten Fenstern? Warmes Holz und fröhliche Farben statt trister und blasser Anstaltswände?
    Anna spürte, wie wütend und angespannt sie war. Trotz der wenigen Kilometer hatte sie der Weg hierher über eine Stunde gekostet. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es bereits 9   Uhr war. Hoffentlich war sie nicht zu spät. Gedankenverloren spannte Anna ihren Regenschirm auf. Die Nässe kroch ihr die Hosenbeine hoch. Erst jetzt merkte sie, dass sie wohl beim Aussteigen unachtsam in eine Pfütze getreten war. Ihre Jeans klebten an den Waden und in ihren Goretex-Schuhen machte sich Feuchtigkeit breit. Wasserdicht, das wusste niemand besser als sie, waren eben nur Gummistiefel. Leider galt das im doppelten Sinne: kein Regen rein, kein Schwitzwasser raus. Ob sie wohl die einzige Frau mit Schweißfüßen war?
    Â»Der nächste Bus kommt erst in eineinhalb Stunden«, sagte eine Stimme hinter ihr.
    Anna drehte sich erschrocken um. Vor ihr stand ein älterer Mann in Wandermontur mit einem Rucksack auf dem Rücken. Er lächelte sie freundlich an. »Hier gibt es keine Unterstellmöglichkeit. Aber vorne, direkt hinter der Unterführung, ist ein Hotel. Das Restaurant hat geöffnet, da können Sie einen Kaffee trinken. Sie können sich natürlich auch in der Unterführung unterstellen.« Der Herr deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite.
    Anna nickte. »Vielen Dank, das ist eine gute Idee.«
    Sie wandte sich ab und eilte davon. Als sie die Unterführung erreichte, schob sie ihren Schirm zusammen und steckte ihn zurück in ihre Handtasche. Der Platz war ideal, um unentdeckt zu bleiben. Glücklicherweise waren bei diesem schlechten Wetter ohnehin nur wenige Menschen freiwillig unterwegs. Immerhin hatte der Schauer etwas nachgelassen. Nur ein feuchter, nebliger Nieselregen hing jetzt noch in der Luft.
    Aus ihrem Versteck lugte Anna zur Justizvollzugsanstalt hinüber. Sie ließ den Eingang keine Sekunde aus den Augen. Ob er durch diese Tür in die Freiheit kommen würde?
    Während sie wartete, trat sie von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte zu verscheuchen. Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen. Die Minuten krochen dahin. Nach einer geraumen Weile bemerkte Anna zwei Frauen, die in Richtung
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