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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition)
Autoren: Tim Pieper
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öffnete
sich die Tür. Auf langen O-Beinen näherte sich ein hagerer Mann. Er trug einen
schwarzen Frack, eine weiße Weste und ein weißes Hemd. »Halb acht war
ausgemacht«, sagte er streng. »Sie kommen zu spät.« Das aschblonde Haar war
akkurat gescheitelt und klebte, mit Makassaröl getränkt, am Schädel. Die Stirn
und die Schläfen glänzten und waren mit Aknenarben übersät.
    »Sie belieben zu
scherzen«, sagte Otto und brachte sogar ein Lächeln zustande. Er ergriff die
knochige Hand und schüttelte sie ausgiebig. »Verehrter Herr …« Schnell
überlegte er, mit welchem Titel er Karl Vitell anreden sollte, der nicht nur
einer der zwanzig vermögendsten Männer des Kaiserreichs, sondern auch
Kommerzienrat, Träger des Preußischen Königlichen Kronenordens und Vorsitzender
des Clubs von Berlin war. »… Herr Kommerzienrat, ich schätze mich glücklich,
Ihre Bekanntschaft zu machen.«
    Vitell zog seine
Hand aus der Umklammerung und sagte: »Ja, ja.« Er verharrte einen Moment, um
Otto von Kopf bis Fuß zu mustern. »Ich habe Sie mir älter, vergeistigter und
würdevoller vorgestellt, mehr wie einen Gelehrten.«
    Das war eigentlich
eine Respektlosigkeit, doch enthielten die Worte mehr als nur einen Funken
Wahrheit. Weil er erst fünfunddreißig Jahre alt war, erkannten nur wenige den
Wissenschaftler in Otto. Die meisten hielten ihn für einen Mann, der einer mehr
körperlichen Beschäftigung nachging – etwa als Veterinärmediziner, Förster oder
Kapitän zur See. Er schrieb es seinem gesunden Teint, den markanten
Gesichtszügen und seiner kräftigen Statur zu. »Ich trainiere an der frischen
Luft«, sagte er. »Das kann ich jedem nur empfehlen, gerade einem Mann in Ihrer
Pos –«
    »Jetzt kommen Sie
endlich«, unterbrach ihn Vitell und griff nach seinem Arm. »Durch Ihre
Verspätung haben wir schon mehr als genug Zeit verloren.«
    Widerstrebend ließ
Otto sich ein Stück mitziehen, dann befreite er seinen Ellenbogen mit einem
Ruck. So allmählich reichte ihm das Gebaren dieses Mannes. Er musste sich
schließlich nicht alles gefallen lassen. Um sich von seiner Pünktlichkeit zu
überzeugen, zog er seine Uhr aus der Westentasche und ließ den Deckel
aufspringen. Er guckte einmal auf das Ziffernblatt, dann ein zweites Mal. Plötzlich
wurde ihm klar, dass sich die Zeiger seit ungefähr einer Stunde nicht bewegt
hatten. Möglicherweise war die Uhr noch früher stehen geblieben, und das
bedeutete, dass er sich tatsächlich verspätet hatte. Wie peinlich!
    Otto schluckte
hart und spürte ein Ziehen in der Magengegend. Das war ihm noch nie passiert!
Und ganz bestimmt nicht an einem so entscheidenden Tag. Verunsichert folgte er
dem Kommerzienrat in den Saal. Von der rückwärtigen Fensterfront bis zu einem
kleinen Podest ganz vorn erstreckten sich fünfzehn voll besetzte Stuhlreihen.
Es wurde lebhaft diskutiert, schwadroniert und gelacht. Niemand schien wegen
der Verspätung verärgert zu sein. Die gelöste Atmosphäre beruhigte Otto etwas,
sodass er sich selbst Mut machte: Eine geringfügige Verspätung war jedenfalls
kein Grund, um grob zu werden. Er warf dem Kommerzienrat einen tadelnden Blick
zu und reckte sein Kinn stolz in die Höhe. Soweit er aus dieser Perspektive
erkennen konnte, war kein einziger Sitzplatz frei geblieben. Die gesamte Prominenz
des »Millionenclubs«, wie der Club von Berlin im Volksmund genannt wurde, war
gekommen, um seinen Vortrag zu hören. Sein Buch war in aller Munde, er war ein
gefragter Mann. Was schadete da eine kleine Verzögerung?
    Vitell hob die
Arme und rief: »Meine Herren, der Dozent ist eingetroffen. Meine Herren, bitte!
Wir wollen endlich anfangen.« Nach und nach wurde es etwas leiser, bis nur noch
vereinzeltes Husten und Stühlerücken zu hören waren. Vitell betupfte seine
Stirn mit einem Taschentuch und sagte: »Als auf der Mitgliederversammlung
angeregt wurde, dass in unserer Vortragsreihe ein kriminalpsychologisches Thema
behandelt werden sollte, telegrafierte ich der Koryphäe auf diesem Gebiet, dem
Autor der ›Psychopathia Sexualis‹, Prof. Krafft-Ebing, nach Wien. Ich bat ihn,
mir einen Wissenschaftler zu nennen, der aufgrund seiner Praxisnähe geeignet
wäre, vor einem Laienpublikum zu sprechen. Noch am gleichen Tag erhielt ich
Antwort. Der Professor berichtete mir, dass ihm ein Buch mit dem Titel
›Phänomenologisches. Ein Beitrag zur Kriminalpsychologie‹ in die Hände gefallen
sei, das ihn sehr beeindruckt habe. So ließ ich Erkundigungen einholen
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