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Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)

Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)

Titel: Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)
Autoren: Helga Schimmer
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Haken: Der zum Neandertaler respektive Menschenaffen Herabgewürdigte war nach heutigen Erkenntnissen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unschuldig.
    Doch was hat ein geistig behinderter Mittdreißiger aus Berlin-Köpenick, den Nazi-Schergen zum 53-fachen Serienkiller abstempelten, mit Wien zu schaffen? Die Antwort ist für heimische Patrioten unbequem: Mitarbeiter der Wiener Gerichtsmedizin haben diesen Mann als Versuchsobjekt missbraucht und an ihm abscheuliche Humanexperimente durchgeführt, die er nicht überlebte.
    Bruno Lüdke wird 1908 in der Berliner Vorstadt geboren, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf und besucht die Hilfsschule. Die Leute in der Umgebung kennen ihn als den „doofen Bruno“, einen gutmütigen Einzelgänger, der seinen Lebensunterhalt als Kutscher verdient und gelegentlich einem Nachbarn ein Huhn klaut. Wegen solcher Kleindiebstähle ermittelt die Polizei gegen ihn, Lüdke wird aber aufgrund seiner Geistesschwäche und der daraus folgenden Schuldunfähigkeit nicht verurteilt. Dann starten die nationalsozialistischen Machthaber ihr Euthanasie-Programm, und das Erbgesundheitsgericht verfügt Lüdkes Zwangssterilisation „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Der Eingriff wird 1940 durchgeführt. Da helfen auch die Proteste seiner Familie nicht, die versichert, dass Lüdke noch nie Verkehr mit Frauen gehabt hat.
    Im Jänner 1943 findet man im Köpenicker Stadtwald die 51-jährige Witwe Frieda Rössner vergewaltigt und erdrosselt auf. Im Zuge der Ermittlungen stößt der junge, ehrgeizige Leiter der Berliner Mordkommission, Heinrich Franz, auf den „Neandertaler“ Bruno (siehe obiges Zitat). In nicht ganz geklärter Weise, vermutlich unter Druck und Anwendung körperlicher Gewalt, gesteht Lüdke das Verbrechen.
    Doch Kriminalkommissar Franz steht vor einer ganzen Serie ungeklärter Frauenmorde, die sich in seiner Erfolgsstatistik schlecht ausnehmen: Der Täter hat stets die Verdunklung – eine kriegsbedingte Schutzmaßnahme gegen feindliche Bombenangriffe – ausgenützt, um sich den Opfern unbemerkt zu nähern, ihnen einen Schlag auf den Kopf zu versetzen und sie dann zu vergewaltigen und zu töten. Um endlich des Sexualmörders habhaft zu werden, stattet man Polizistinnen mit Hütchen aus, unter denen sich Stahlkappen befinden. Einer dieser Lockvögel überwältigt schließlich Bruno Lüdke, als er in den Wäldern nahe dem Auffindungsort der toten Witwe Rössner umherstreift.
    Die Köpenicker wundern sich sehr, dass man den „doofen Bruno“ des Sexualmordes bezichtigt. Sie halten ihn für harmlos – er ist derart ängstlich, dass er nicht einmal eines der gestohlenen Hühner schlachten mochte. Kommissar Franz allerdings hätte keinen geeigneteren Verdächtigen unter seine Finger kriegen können: Während der Verhöre manipuliert der karriereorientierte Kriminalist den geistig Behinderten so weit, dass er die entscheidenden Fragen bereitwillig und in gewünschter Weise beantwortet. Zwar gehen Lüdkes Angaben nicht über vage Andeutungen hinaus, aber das stört Heinrich Franz nicht im Mindesten. Hauptsache ein Fall, den er als geklärt auf sein Konto verbuchen kann.
    Der Kommissar wittert seine Chance und nützt das Abhängigkeitsverhältnis, das Bruno zu ihm entwickelt hat, weidlich aus: Er karrt ihn durch ganz Deutschland, an die Tatorte ungeklärter Frauenmorde, und presst ihm Geständnis um Geständnis ab, obwohl sein Verdächtiger vom Intellekt her gar nicht in der Lage ist, selbstständig ausgedehnte Reisen zu unternehmen. Für einige der Morde hat Lüdke auch ein Alibi, seine Fingerabdrücke an den Tatorten fehlen, und es werden keine Gegenstände aus dem Besitz der Opfer bei ihm gefunden. Über sämtliche Unstimmigkeiten wird großzügig hinweggesehen, denn in den Augen der Nazis entspricht Lüdke dem Idealtypus des „geborenen Verbrechers“: ein schwachsinniger Sonderling mit atavistischem Äußeren. Heutigen Kriminalisten gilt er als „Confessor“ – als jemand, der Verbrechen gesteht, die er nicht begangen hat. Aufgrund seiner verstandesmäßigen Benachteiligung dürfte Lüdke sehr empfänglich für Suggestivfragen gewesen sein.
    Der Köpenicker Kutscher gesteht insgesamt 84 Frauenmorde. Die NS-Polizei betrachtet dadurch 53 Verbrechen als aufgeklärt – ein kriminalistischer Triumph, den Kommissar Franz sich nur zu gerne auf seine Fahnen heftet. Von höherer Stelle winkt man jedoch ab: Eine propagandistische Ausschlachtung des Falles kommt
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