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Mord im Herbst: Roman (German Edition)

Mord im Herbst: Roman (German Edition)

Titel: Mord im Herbst: Roman (German Edition)
Autoren: Henning Mankell
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meine Mutter wie ein Stück Vieh. Er pflegte sie zu erniedrigen, indem er sie mitten in der Nacht weckte und zwang, sich nackt hinzustellen und immer wieder zu sagen, dass sie nichts wert sei, bis zum Morgengrauen. Sie hatte solche Angst vor ihm, dass sie zitterte, wenn er in der Nähe war.«
    Ivar Pihlak verstummte plötzlich. Wallander wartete. Die Waffe zeigte immer noch direkt auf ihn. Er ahnte, dass ein Kräftemessen langwierig werden könnte. Er würde den Augenblick abwarten, in dem der Mann die Konzentration verlor. Dann hätte er eine Chance, sich auf ihn zu werfen und ihm die Waffe zu entwinden.
    »Ich habe mich in jenen Jahren«, fuhr Ivar Pihlak fort, »oft über meine Mutter gewundert. Warum hat sie ihn nicht einfach verlassen? Deswegen verachtete und bemitleidete ich sie gleichzeitig. Wie kann man ein und demselben Menschen so widersprüchliche Gefühle entgegenbringen? Ich kann das immer noch nicht verstehen. Wäre sie damals gegangen, wäre es nie geschehen.«
    Wallander spürte einen großen Schmerz hinter allem, was Ivar Pihlak sagte. Aber er wusste immer noch nicht, welchen Ursprung das Gefühl hatte.
    »Eines Tages reichte es ihr«, fuhr Pihlak fort. »Sie erhängte sich in der Küche. Und da reichte es mir …«
    »Sie haben ihn getötet?«
    »Es war in der Nacht. Ich bin wohl aufgewacht, als sie den Stuhl umstieß. Aber mein Vater schlief weiter. Ich schlug ihm mit einem Hammer den Kopf ein. Die Gräber hob ich in derselben Nacht aus. Vor Tagesanbruch waren sie begraben, und die Erde war wieder am Platz.«
    »Aber ein paar Johannisbeersträucher landeten an der falschen Stelle.«
    Ivar Pihlak sah Wallander fragend an.
    »Also deshalb haben Sie es entdeckt?«
    »Was geschah dann?«
    »Alles ergab sich von selbst. Ich erklärte den Behörden, sie hätten das Land verlassen. Niemand kontrollierte etwas, es war noch Krieg, alles war Chaos, Menschen auf der Flucht, hierhin und dorthin, ohne Identität, ohne Wurzeln, ohne Ziel. Also zog ich um, zuerst nach Sjöbo, dann, nach dem Krieg, nach Göteborg. In meinen Studienjahren wohnte ich in verschiedenen möblierten Zimmern. Ich brachte mich damit durch, dass ich im Hafen arbeitete. Ich hatte starke Arme damals.«
    Die Waffe zeigte weiter auf Wallander. Aber er hatte das Gefühl, dass Ivar Pihlaks Aufmerksamkeit nachließ. Vorsichtig versetzte Wallander die Füße, sodass er einen guten Stand hatte, wenn der Augenblick kam, in dem er sich auf ihn stürzen würde.
    »Mein Vater war ein Ungeheuer«, sagte Ivar Pihlak. »Ich habe nie bereut. Aber meiner Strafe bin ich nicht entgangen. Tag und Nacht sehe ich seinen Schatten um mich herum. Mir ist, als würde ich das Gesicht meines Vaters sehen und ihn sagen hören: ›Du entkommst mir nie!‹«
    Plötzlich brach Ivar Pihlak in Tränen aus. Wallander zögerte, erkannte aber, dass jetzt der Augenblick gekommen war. Er sprang auf und warf sich auf Ivar Pihlak. Aber er hatte die Schnelligkeit des alten Mannes falsch eingeschätzt. Pihlak drehte sich weg und schlug Wallander mit dem Pistolenkolben an den Kopf. Der Schlag war nicht hart, aber hart genug, dass Wallander das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, stand Pihlak vorgebeugt über ihm.
    Wallander sah sofort, dass Pihlak außer sich war. Die Waffe war auf Wallanders Kopf gerichtet.
    »Du hättest mich in Ruhe lassen sollen«, schrie Pihlak. »Du hättest mich mit meinem Geheimnis und meiner Scham sterben lassen sollen. Mehr wollte ich nicht. Jetzt kommst du und hast alles kaputt gemacht.«
    Wallander erkannte mit Entsetzen, dass der Mann eine letzte Grenze überschritten hatte. Gleich würde er schießen. Der Versuch, ihn doch noch zu Fall zu bringen, war zum Scheitern verurteilt.
    »Ich lasse Sie in Ruhe«, sagte Wallander. »Ich verstehe, was Sie getan haben. Ich werde nie jemandem etwas sagen.«
    »Es ist zu spät. Warum sollte ich Ihnen glauben? Sie haben sich auf mich gestürzt. Sie dachten, den alten Sack da schaffe ich mit links.«
    »Ich will nicht sterben.«
    »Das will niemand. Aber am Ende sterben alle.«
    Ivar Pihlak trat einen Schritt näher. Er hielt die Waffe jetzt mit beiden Händen. Wallander wollte die Augen schließen, wagte es aber nicht. In seinem Kopf flimmerte Lindas Gesicht vorüber.
    Ivar Pihlak schoss. Aber der Schuss traf Wallander nicht. Es kam überhaupt kein Schuss. Als Ivar Pihlak den Abzug durchdrückte, erfolgte eine heftige Explosion. Metallsplitter der alten Waffe trafen Ivar Pihlak in die Stirn, rissen ein
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