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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal
Autoren: Colin Dexter
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Verständnis
zu haben. Ihrem Bekannten hier geht es gar nicht gut, und wir tun alles, was in
unseren Kräften steht, damit er wieder gesund wird. Unsere Bemühungen können
aber nur dann Erfolg haben, wenn Sie uns nicht dazwischenkommen und irgend
etwas mitbringen, von dem Sie meinen, daß es ihm gut täte, was ihm aber in
Wahrheit nur schadet. O. K.? Das ist doch wohl einzusehen, oder?»
    Mehr noch als ihre Worte wirkte
ihre grimmige Miene auf die beiden Männer einschüchternd, und die dunkelblaue
Schwesterntracht trug noch dazu bei, sie abweisend und unnahbar erscheinen zu
lassen. Lewis, der bei ihren Worten abwechselnd rot und blaß geworden war, sah
völlig geknickt aus, als sie verschwand, um endlich wieder ihren Platz hinter
dem Schreibtisch einzunehmen.
    «Und wer war das?» fragte er
nun zum zweitenmal an diesem Abend.
    «Sie durften eben einem
Auftritt unserer verehrten Oberschwester beiwohnen, gleichermaßen humorlos wie
effizient, geprägt von Calvin und Mrs. Thatcher.»
    «Und ihr Wort...»
    Morse nickte, «...ist Befehl.
Sie ist diejenige, die hier auf der Station das Sagen hat. Aber das werden Sie
sich sicherlich schon gedacht haben.»
    «Aber warum konnte sie nicht
ein bißchen freundlicher sein?»
    «Was weiß ich! Vielleicht ist
sie frustriert über ihr nicht existentes Sexualleben. Mit dem Gesicht
hat sie vermutlich nie viele Chancen gehabt.»
    «Wie heißt sie?»
    «Wir nennen sie hier

    «Weil sie aus der Umgebung vom
Loch Ness stammt?»
    «Aus dem Loch selbst, Lewis,
aus dem Loch.» Die beiden Männer lachten, doch der Zusammenstoß mit der
Stationsschwester war unerfreulich gewesen, und besonders Lewis konnte sich nur
schwer davon erholen. Etwa fünf Minuten lang fragte er Morse aus nach den
anderen Patienten, und der Chief Inspector erzählte ihm vom Tod des Obersten
der Indischen Armee, Deniston, weitere fünf Minuten vergingen mit Small talk
über Ereignisse im Präsidium, Lewis’ Familie sowie die in dieser Saison nicht
gerade rosigen Aussichten von Oxford United. Doch der Auftritt der, wie Morse
sie nannte, «verdammten Schwester» hatte ihnen beiden die Laune verdorben. Die
Stimmung blieb gedämpft. Morse war plötzlich unangenehm heiß, und er spürte,
daß die Unterhaltung ihn zu ermüden begann.
    «Ich glaube, es ist allmählich
Zeit, daß ich gehe, Sir», bemerkte Lewis rücksichtsvoll.
    «Aber erst sagen Sie mir, was
Sie da noch in Ihrer Tragetasche haben.»
    «Nichts...»
    «Lewis! Mein Magen ist
vielleicht im Moment nicht ganz in Ordnung, aber meine Sehschärfe ist ungetrübt!»
    Lewis’ düstere Stimmung begann
sich ein wenig aufzuhellen, und als er nach einem vorsichtigen Blick zum
Schreibtisch sicher war, daß die Oberschwester im Moment nicht Obacht gab, zog
er mit schnellem Griff eine kleine, flache Flasche aus der Tüte. Das
dunkelblaue Einwickelpapier hatte denselben Farbton wie Nessies Tracht.
    «Aber erst, wenn man es Ihnen
erlaubt!» zischte Lewis, während er Morse im Schutz der Bettdecke die Flasche
in die ausgestreckte Hand schob.
    «Marke Bell?» fragte Morse.
    Lewis nickte.
    Es war ein Augenblick
vollkommenen Glücks.
     
     
    Unvermittelt ertönte von
irgendwoher ein Glockensignal, und die Besucher standen auf und begannen sich
zu verabschieden, einige vielleicht etwas zögernd, doch die Mehrzahl mit kaum
verhohlener Erleichterung.
    Auch Lewis erhob sich, doch
bevor er sich zum Gehen wandte, griff er noch einmal in die Tragetasche, um
sein letztes Geschenk hervorzuzaubern: ein Taschenbuch mit dem Titel Das
blaue Billett. Der Umschlag zeigte das aufreizende Foto eines mehr als
spärlich bekleideten jungen Mädchens.
    «Ich habe angenommen... Ich
dachte, daß Sie vielleicht gern etwas Leichteres lesen würden, Sir... Meine
Frau hat, denke ich, keine rechte Vorstellung...»
    «Passen Sie bloß auf, daß sie
Sie nicht eines Tages dabei erwischt, daß Sie solchen Schund lesen.»
    «Aber, ich lese doch so
etwas gar nicht, Sir.»
    «Nun, der... äh... Titel ist ja
schon mal sehr viel eingängiger, das muß ich schon sagen», bemerkte Morse grienend.
Lewis nickte befriedigt.
    «Jetzt muß ich aber wirklich
gehen», sagte er dann.
    Morse war das ganz recht. Nach
einer Weile — auch der letzte Besucher hatte inzwischen den Krankensaal
verlassen — begannen wieder die üblichen Prozeduren des Puls- bzw. Blutdruckmessens.
Morse erhielt seine abendliche Dosis Pillen, und dann hatte er endlich die
Gelegenheit, sich unbeobachtet dem von Lewis mitgebrachten
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