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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal
Autoren: Colin Dexter
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mir gleich gesagt, daß Wilfrid wohl nur noch
ein paar Tage zu leben hätte. Und schließlich müssen wir ja alle einmal
sterben.»
    Ja, ja, aber jetzt verschwinde
endlich. Siehst du denn nicht, daß ich verdammt müde bin?
    «Wir sind zweiundfünfzig Jahre
verheiratet gewesen.»
    Endlich begriff Morse, wen er
vor sich hatte, und ein wenig freundlicher gestimmt, nickte er ihr zu: «Das ist
eine lange Zeit.»
    «Ihm hat es hier im Krankenhaus
gefallen, wissen Sie. Er war Ihnen allen so dankbar...»
    «Ich habe ihn
bedauerlicherweise kaum kennengelernt. Ich bin nämlich erst gestern
eingeliefert worden...»
    «Und deshalb hat er mich
gebeten, Ihnen allen in seinem Namen noch einmal zu danken — allen seinen alten
Freunden hier...» Sie sprach in dem präzisen, disziplinierten Ton einer
pensionierten Lateinlehrerin.
    «Er war ein... großartiger
Mann», sagte Morse, ein wenig ratlos. «Ich wollte, ich hätte Gelegenheit
gehabt, ihn näher kennenzulernen. Aber wie ich schon sagte, ich bin erst vor
zwei Tagen eingeliefert worden — Ärger mit dem Magen — zum Glück nichts
Ernstes...»
    Das Hörgerät begann schrill zu
pfeifen. Die alte Dame rüttelte ungeduldig an dem Kontakt in ihrem Ohr und
drehte an einem der Regelknöpfe am Gerät selbst, aber es half nichts, der
Pfeifton blieb.
    « Und außerdem sollte ich
Ihnen dieses kleine Buch hier geben», fuhr sie fort, einzelne Worte nachdrücklich
betonend. «Er war sehr stolz darauf. Nicht daß er das gesagt hätte, aber ich kannte ihn ja. Er hat lange daran gearbeitet, und es war ein sehr schöner Tag für ihn, als er es endlich gedruckt in Händen hatte.»
    Sie überreichte ihm ein dünnes,
flaschengrün eingebundenes Büchlein. Morse nahm es freundlich lächelnd
entgegen. «Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Denn, wie ich ja schon sagte,
ich habe ihn ja kaum gekannt.»
    «Es war Wilfrid ein dringendes
Bedürfnis...»
    Oje.
    «Sie werden es doch lesen?»
    «Aber ja, sicher.»
    Die alte Dame hantierte erneut
an ihrem Hörgerät, lächelte ihm dann mit der Hilflosigkeit eines verirrten
Engels ernsthaft zu und sagte: «Dann auf Wiedersehen, Mr. Horse» und wandte
sich seinem Bettnachbarn zu, um ihm ebenfalls den Dank ihres Mannes
abzustatten.
    Morse betrachtete den schmalen
Band, der ihm so unverhofft geschenkt worden war. Er konnte kaum mehr als
zwanzig Seiten umfassen. Morgen würde er ihn sich näher ansehen. Versprochen
war versprochen. Im Moment hatte er allerdings nur das eine Verlangen: wieder
die Augen zu schheßen, und so packte er Mord am Oxford-Kanal von Wilfrid
M. Deniston in seinen Nachttisch zu Maßstab der Ungerechtigkeit und dem Blauen
Billett.
    Unmittelbar darauf war er
eingeschlafen. Im Traum erlebte er sich bei einem Geländelauf über die Felder
seiner Jugend. An der in einiger Entfernung hegenden Ziellinie saß eine
barbusige Blondine und streckte ihm ein Glas Bier mit einer verführerischen
Blume entgegen.
     
     
     

Kapitel 5
     
    Diese
Art Literatur besitzt zuweilen eine gleichsam lethische Qualität: Sie bewirkt,
daß die Leser vergessen zu fragen, was sie bedeutet oder ob sie überhaupt etwas
bedeutet.
     
    Alfred
Austin, Das Zäumen des Pegasus
     
     
    Die am nächsten Morgen (Montag)
um zehn Uhr unter schwacher Narkose durchgeführte Endoskopie führte bei den
behandelnden Ärzten im Radcliffe zu der Entscheidung, ihn nicht an die
Chirurgie auszuliefern; insgesamt war die Prognose einigermaßen günstig,
vorausgesetzt, der Patient legte sich in Zukunft (in den nächsten Monaten
allemal, aber besser noch in den nächsten Jahren) in bezug auf Alkohol mehr
Zurückhaltung auf. Darüber hinaus gestatteten sie ihm sogar, sozusagen als
Zeichen ihres gedämpften Optimismus, allabendlich einen halben Teller
Ochsenschwanzsuppe sowie eine Portion Vanille-Eiskrem. Bei Morse löste diese
Nachricht eine Freude aus, als habe man ihm ein Feinschmecker-Menü in Aussicht
gestellt. Gegen halb acht meldete sich Lewis bei Schwester Maclean (Nessie) und
konnte mitsamt seinen Mitbringseln, einer Grußkarte (von Morses Sekretärin),
einer Tube Zahnpasta mit Pfefferminzgeschmack (von Mrs. Lewis) sowie einem
sauberen Handtuch (ebenfalls von Mrs. Lewis) ungehindert passieren. Die beiden
Männer unterhielten sich eine Weile, und Lewis konstatierte zufrieden, daß sein
Chef offenbar auf dem Wege der Besserung war.
    Gerade als Lewis im Begriff war
zu gehen, kam Fiona zu Morse ans Bett, schüttelte seine Kissen auf und stellte
ihm einen Krug mit Wasser auf den
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