Montana 04 - Vipernbrut
überquerte und ihren Wagen aufschloss. Ihr Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Abendluft. Die alte Kirche lag hoch oben am Hügel auf einem Felsvorsprung, der über dem unteren Teil von Grizzly Falls aufragte. Kirche und Pfarrhaus waren in den späten 1880ern errichtet worden, und obwohl man im Laufe der Jahre immer wieder die sanitären Anlagen saniert, Stromleitungen, Heizgebläse und Wärmedämmung erneuert hatte, zog es in beiden Gebäuden nach wie vor kräftig, zudem wuchs die Gemeinde Jahr für Jahr. Sonntagmorgens war selbst die alte Chorempore voller Gemeindemitglieder, und an Ostern und Weihnachten mussten zusätzliche Gottesdienste für diejenigen abgehalten werden, die sich nur zu diesen besonderen Gelegenheiten in der Kirche blicken ließen. Die strengen Winter in Montana setzten den alten Gebäuden zu, genau wie denen, die sich darin aufhielten.
In Brendas Augen war der Bau einer neuen Kirche eine großartige Idee, genau wie Prediger Mullins’ Vorschlag, eine Gruppe junger Musiker aus der Gemeinde Rockversionen traditioneller Kirchenlieder spielen zu lassen. Auch wenn sich Traditionalisten wie Mildred Peeples gegen die Veränderungen sperrten, so brächten sie doch neuen, frischen Wind in die Gemeinde, und das gefiel Brenda. Vielleicht könnte sie sogar ihre beiden Söhne, die mittlerweile im Teenageralter waren, überreden, sonntags früher aufzustehen und die Messe zu besuchen, obwohl das nicht leicht werden würde, zumal Ray, ihr Ex-Mann, ein herausragendes Beispiel eines hedonistischen, selbstsüchtigen Nichtsnutzes war.
Bei dem Gedanken an den Vater der beiden Jungen runzelte sie die Stirn, schickte ein kurzes Gebet zum Himmel, in dem sie Gott um Demut und die Kraft der Vergebung anflehte, dann stieg sie ein und schlug die Autotür zu. Aus dem Rückspiegel blickten ihr ihre zornig funkelnden Augen entgegen.
»Herr, gib mir Kraft«, flüsterte sie noch einmal, dann legte sie den Gang ein, setzte ihren alten Ford Escape zurück und rollte vom Kirchenparkplatz. Die Jungen waren heute Abend bei Ray, und sie musste endlich die Tatsache akzeptieren, dass sie einmal diejenige gewesen war, die Ray Sutherland für den perfekten Vater ihrer Kinder gehalten hatte.
»Die Torheit der Jugend«, murmelte sie und versuchte, nicht weiter an Ray und sein Versagen als Ehemann und Vater zu denken.
Sie hatte gehofft, ein paar kleinere Weihnachtsgeschenke in der Apotheke und im Geschenkartikelladen besorgen zu können, deshalb fuhr sie hügelabwärts in Richtung Einkaufszentrum und schlüpfte hinein, gerade als die Geschäfte schließen wollten. Schnell kaufte sie ein Plüschrentier für ihren Neffen und Plastikbauklötze mit Weihnachtsmotiven für ihre Nichte. Sie hatte sie schon vor ein paar Wochen ins Auge gefasst, doch mit dem Coupon, den sie am Sonntag aus der Zeitung ausgeschnitten hatte, bekam sie beides zum Preis von einem.
Ihre Stimmung hob sich, als sie ihre Einkäufe bezahlte und darüber nachdachte, ob sie sich mit einer heißen Schokolade im Coffeeshop belohnen sollte, doch dann überlegte sie es sich anders. Mit dem Geld, das sie im Wild Will, einem Restaurant in der Innenstadt, verdiente, konnte sie nicht einmal die Kosten bestreiten, die nötig waren, um zwei halbwüchsige Kinder allein großzuziehen, deshalb beschränkte sie ihre persönlichen Ausgaben auf ein Minimum und zog das Kaffeeangebot im Wild Will vor, auf das sie einen Nachlass von zwanzig Prozent bekam. Sandi, die Besitzerin des Restaurants, war großzügig gegenüber ihren Angestellten; sie hatte Brenda als Kellnerin eingestellt, als Ray die Familie vor fünf Jahren verlassen hatte.
Im Wagen war es kalt, also drehte sie die Heizung höher und machte sich auf den Weg nach Hause. Im Radio lief Weihnachtsmusik, und sie summte leise mit. Schneeflocken tanzten im Licht ihrer Scheinwerfer, schienen Pirouetten zu drehen, während sie sanft zur Erde hinabrieselten. Die Wohngegenden waren mit Plastikweihnachtsmännern, Rentieren aus Weidenflechtwerk, frischen Tannengirlanden und farbigen Lichtern geschmückt. Endlich wurde die Heizung warm. Ihr Haus lag in der Nähe des September Creeks, ein paar Meilen außerhalb der Stadt. Das kleine Blockhaus mit den zwei Schlafzimmern, das Ray gekauft hatte, als sie drei Jahre verheiratet waren, wies langsam, aber sicher Spuren der Zeit auf, eine Renovierung war mehr als überfällig. Bei der Scheidung war ihr das Haus zugesprochen worden, doch sie zahlte Ray noch immer Monat für Monat aus,
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