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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Autoren: Milena Moser
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die Wäsche. Hatte in Wirklichkeit Eva seine Hemden gebügelt? All die Jahre?
    «Wie lange seid ihr eigentlich schon zusammen?», fragte sie.
    Eva öffnete die Kühlschranktür, so dass Poppy zur Seite treten musste. Sie nahm zwei kleine Glasflaschen mit Campari-Soda heraus, ein Schüsselchen mit Oliven, und stellte alles auf ein Tablett.
    «Ach, Annamaria», sagte sie. Sie nannte Poppy nicht bei dem Namen, den ihre Mutter ihr gegeben hatte. Poppy schätzte das. «Sei nicht so streng», fuhr Eva fort. «Dein Vater hatte es auch nicht leicht.» Sie schloss den Kühlschrank wieder. Poppy nahm eins der Bilder von der Tür und drehte es um. Rigi, Mai 1975 .
    «Er vermisst dich», sagte Eva. «Er kann es nur nicht zeigen.» Sie drückte Poppy das Tablett in die Hand und schickte sie mit einer Kinnbewegung ins Wohnzimmer zurück.
    Als Poppys Vater von dem Fragebogen aufsah, hatte er Tränen in den Augen. «Habe ich ihr unrecht getan?», fragte er. «Und dir?»
    Poppy zuckte mit den Schultern. Sie hatte es sich verboten, diese Tür noch einmal aufzumachen. Was, wenn man ihrer Mutter hätte helfen können? Und ihr? Und Lukas? Sie durfte sich diese Fragen nicht stellen. Sie wollte nicht noch einmal in dieses bodenlose Loch der Verzweiflung fallen.
    «Das konntest du doch nicht wissen», sagte sie. «Niemand konnte das wissen, damals.»
    «Ich habe nur getan, was ich für richtig hielt.»
    «Ich weiß. Das tun wir doch alle.» Sie umarmte ihren Vater zum Abschied und versprach, bald wiederzukommen. Sie ließ sich sogar von Eva auf die Wangen küssen, oder auf die Luft neben ihren Wangen.
    Zwei halbe Tage verbrachte Poppy in der Praxis von Frau Dr. Nussbaum. Sie saß am Computer und drückte auf Knöpfe, wenn bestimmte Symbole auftauchten oder Zahlenkombinationen sich wiederholten. Sie musste sich immer längere Wortreihen merken und abstrakte Bilder nachzeichnen. Anfangs war sie nervös gewesen, sie hatte Angst gehabt, die Aufgaben nicht zu verstehen, wie früher in der Schule. Was, dachte sie, was, wenn sich heute herausstellt, dass ich wirklich dumm bin? Unbrauchbar, zu nichts nutze? Was sag ich dann der Frau auf dem Arbeitsamt? Doch sie hatte schnell gemerkt, dass die Aufgaben gar nicht kompliziert waren. Die meisten fielen ihr leicht. Manche machten ihr sogar Spaß. Sie merkte sich die Wortreihen wie ein Gedicht, sie war stolz auf sich. Sie dachte, sie hätte gut abgeschnitten.
    Dann wurde sie zur Besprechung mit Frau Nussbaum vorgeladen. Die Psychiaterin breitete die Unterlagen auf dem Tisch aus und schaute sie mit einem seltsamen Blick an. Wenn Poppy es nicht besser wüsste, würde sie denken, es läge Bewunderung darin. Aber wann hatte sie je jemand bewundert?
    «Sie sind ein eindeutiger Fall», sagte Frau Nussbaum. Das hatte der Psychiater im Gefängnis ja auch schon gesagt. Poppy ließ sich die Ergebnisse erklären – sie war nicht dumm, das war schon mal etwas. «Die Matura hätten Sie schaffen können. Mit ein wenig Unterstützung.» Was in dem Blick lag, der diese Aussage begleitete, erkannte Poppy sofort: Mitleid.
    Ihre Testresultate schwankten zwischen zwei und achtundneunzig Prozent. Das hieß, dass nur zwei Prozent aller Frauen in ihrem Alter bei derselben Aufgabe besser abgeschnitten hatten – oder schlechter, je nachdem. Die Symbole, die sie hätte anklicken sollen, hatte sie fast alle verpasst. Die wiederkehrenden Zahlen auch. Und sie hatte es nicht einmal gemerkt. Ihre Aufmerksamkeit flackerte schwach wie das Licht einer Kerze in einem sauerstoffarmen Raum, ein Blinzeln ließ sie erlöschen.
    Poppy ging mit ihrer Diagnose nach Hause und dachte erst, das sei genug. Zu wissen, warum sie so war, wie sie war. Allein das Wissen, dass es einen Namen gab für das, was ihr Leben so schwermachte, dass sie also nicht «faul, dumm oder verrückt» war, machte ihr Mut. Sie rief Julia an und lud sich zum Abendessen ein. Als alle am Tisch saßen, erzählte sie von ihrer Diagnose und schlug vor, dass Lukas sich auch abklären lasse. Doch er sah sie an, als hätte sie ihn verraten.
    «Jetzt fängst du auch noch damit an!», schnauzte er sie an. «Sag doch einfach, wenn ich verschwinden soll! Das wär euch doch allen am liebsten!» Er lief aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Florian sah auf die Tischplatte. Einen Moment später bat er höflich, sich zurückziehen zu dürfen. Er trug seinen halbleeren Teller ins Wohnzimmer, ohne irgendjemanden anzusehen. Dann hörte man den Kommentar zu einem
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