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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Autoren: Milena Moser
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groß wie Ratten, sie trampelten auf Nevadas Nervenbahnen herum und hinterließen brennende Spuren. Zusammengekrümmt lag sie auf ihrem Bett, als könnte sie sich so um den Schmerz rollen, ihn isolieren. Sie lag auf der Decke, konnte ihr Gewicht nicht auf ihrer Haut ertragen. Die dünne Baumwolle ihres T-Shirts brannte sich in ihre Haut. Immer wieder stellte sie sich vor, wie sie die Hand heben, das Hemd nach oben schieben, über den Kopf ziehen würde, aber sie konnte es nicht tun, sie konnte die Hand nicht heben, sie konnte nicht weiterdenken.
    Sie lag in einem Brennnesselbett. In der dritten oder vierten Klasse waren einige ihrer Mitschülerinnen bei den Pfadfinderinnen. Nach einem Ferienlager hatten sie wilde Geschichten von Taufen und Mutproben erzählt. Sie mussten allein durch die dunkle Nacht laufen, ein grausiges Gebräu trinken und sich auf ein Bett aus Brennnesseln legen. Doch Nevada und die anderen Ballettschülerinnen in der Klasse hatten sich von diesen Erzählungen nicht beeindrucken lassen. Das ist noch gar nichts, hatten sie gedacht. Tanzt ihr euch mal die Zehen blutig, bis die Nägel abfallen! Doch das Brennnesselbett, erkannte Nevada jetzt, das Brennnesselbett war die grausamere Prüfung.
    «Das ist das Uthoff-Phänomen», sagte Professor Kaiser. Er stand plötzlich neben ihrem Bett. Wie aus dem Nichts. Nevada wusste nicht, ob sie geschlafen hatte. Es fühlte sich nicht so an. Das Zimmer war verdunkelt, die Terrassentür stand einen Spaltbreit offen, warme Luft strömte herein. Professor Kaiser trug Jeans und ein kurzärmliges T-Shirt, aus dem bleiche Arme ragten. Sie hätte ihn beinahe nicht erkannt. Mit kühlen Fingern tastete er ihre Schilddrüsen ab, hob ihre Augenlider.
    «Uthoff-Phänomen?», murmelte Nevada. Irgendetwas hatte sie darüber gelesen. In den Informationsbroschüren, die Kaiser ihr mitgegeben hatte.
    «Erhöhung der Körpertemperatur führt zu einer Verschlechterung der Sehkraft und zu einer Verstärkung aller anderen Symptome», dozierte Sierra. «Scheißhitze! Aber keine Sorge, ich hab dir im Internet kühlende Kleidung bestellt, eine Weste und ein Halstuch. Das kriegen wir schon hin!»
    «Sierra, nun erhitz du dich bloß nicht», sagte Professor Kaiser zärtlich, und dann errötete er. Sierra zuckte nur mit den Schultern.
    Nevada wusste nicht, ob es Nacht war oder Tag. Ob sie wach war oder schlief. Sie versuchte, so langsam und regelmäßig wie möglich zu atmen. Sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf den Schmerz. Manchmal fühlte sie kühle Finger auf ihrer Stirn. Manchmal saß ihre Mutter auf ihrem Bett und versuchte ihr löffelweise Suppe einzuflößen. Nevada dachte, dass sie lieber tot wäre. Als noch länger in diesem Brennnesselbett zu liegen. Sie dachte, dass sie es keine Sekunde länger aushalten konnte. Dann ging diese Sekunde vorbei, und die nächste.
    «Morgen soll es schon kühler werden», sagte Martha.
    Nevada atmete. Sie atmete ein, und sie atmete aus. Was sollte sie sonst tun? Die Ameisen drängelten sich dicht unter ihrer Haut. Nevada versuchte sich auf das Innere ihres Körpers zu konzentrieren, wo keine Ameisen lebten. Wo der Schmerz auszuhalten war. Und plötzlich sah sie wieder das kleine Mädchen vor sich, dessen Bild sie so lange in sich eingeschlossen hatte. Das Mädchen saß auf einer Wiese, am Ufer eines kleinen Bachs. Gelangweilt riss es die Grashalme um sich herum aus, warf sie ins Wasser und schaute ihnen nach, wie sie davontrieben. Es schien auf etwas zu warten. Plötzlich blickte es auf. «Wie lange muss ich noch warten?», quengelte es.
    Nevada musste lachen.
    Das Mädchen sprang auf. «Ich will spielen!» Es warf eine Handvoll Gänseblümchen in die Luft und drehte sich dann mit ausgebreiteten Armen im Kreis, während die zerrupften Blüten auf es herabregneten. Nevada kicherte, als sie das Kitzeln auf ihrem eigenen, erwachsenen Gesicht spürte.
    Sie war nicht tot. Das kleine Mädchen war nicht kaputt. Sie hatte es sicher weggeschlossen, und da, in dieser metallenen Schatulle, hatte es all die Jahre überlebt. Und jetzt wollte es freigelassen werden. Ein ganzer Teil von Nevada, den sie nicht kannte, den sie noch gar nie gelebt hatte, wartete ungeduldig am Ufer das Bachs auf sie. Rief sie. Und wollte mit ihr spielen.
    «Schon gut, schon gut, ich bin ja da!», rief sie zurück. Sie lief auf das kleine Mädchen zu, und obwohl ihr rechter Fuß bei jedem Schritt einknickte, erfüllte sie unbändige Freude.
     
Poppy
     
    Poppy brauchte
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