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Mondmädchen

Mondmädchen

Titel: Mondmädchen
Autoren: Boje Verlag
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die Luft erfüllt gewesen vom Klang der Wellen, die gegen den Rumpf des Schiffes klatschten, und vom Wind, der in die dicht gewebten Leinensegel fuhr. Ich konzentrierte mich auf die Worte, die die Göttin mir ins Ohr geflüstert hatte. Dann packte mich die Wut.
    Das war also die große Weisheit – der große Trost – den die Göttin mir zu bieten hatte? Ich lachte, obwohl mir dabei die Tränen die Wangen hinunterliefen. Ich musste nicht daran erinnert werden, dass ich immer wieder versagt hatte, oh große, allgegenwärtige Mutter! Wenn ich meine Mutter gewesen wäre, dann hätte ich meine Brüder gerettet. Ich hätte gewusst, was ich tun musste, um Ägypten wiederzugewinnen.
    Nein , sagte die Göttin dann. Deine Mutter hat deine Brüder nicht gerettet. Deine Mutter hat Ägypten verloren.
    Verwirrt blickte ich hinauf in das leuchtende Antlitz des Mondes.
    Du bist nicht deine Mutter , raunte Isis noch einmal im Wind.
    Ich schüttelte den Kopf. Natürlich war ich nicht meine Mutter! Mutter war klug und tatkräftig gewesen. Sie hatte sich mit zwei der mächtigsten Männer in Rom verbündet, um ihre Krone und die Unabhängigkeit ihres Königreiches zu sichern. Mehr als zwanzig Jahre war ihr das auch gelungen. Ich hatte versucht, mich an Marcellus zu binden und war kläglich gescheitert. Und mein Versuch, in Ägypten wieder an die Macht zu gelangen, hatte zur Ermordung von Gallus und dem sinnlosen Tod einer Isis-Jüngerin geführt.
    Mutter hatte Macht und Kontrolle über ihr Leben gehabt, auch schon als junges Mädchen. Ich besaß keines von beiden. Und nachdem sie ihre Macht und ihr Königreich verloren hatte, hat sie die Kontrolle über das Einzige, was ihr noch blieb, ergriffen – über ihren Tod.
    Mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken. Sie hatte die Kontrolle über ihren eigenen Tod gehabt. Die Macht, den eigenen Tod selbst zu bestimmen. In der Vision bei meiner Initiation hatte die Göttin mich aufgefordert, mich zu entscheiden. War das die Entscheidung, die ich fällen musste? Ich zögerte und hielt unwillkürlich bei dem Gedanken daran den Atem an. Ich konnte tun, was Mutter getan hatte.
    Ich konnte meinem Leben ein Ende setzen.
    Ja, das ergab einen Sinn. Ich konnte mein Leben selbstbestimmt und in Würde beenden, genau wie sie es getan hatte. Ich konnte in das kalte Wasser gleiten, meine Lungen mit nasser Schwärze füllen und Octavian seinen letzten Triumph über mich nehmen, genau wie Mutter.
    Das Schiff schlingerte und ich hielt die Reling noch fester umklammert. Als ich gegen die hölzerne Schiffswand gedrückt wurde, spürte ich Mutters Dolch an meinem Bauch. Ich hörte ängstliche Stimmen und eilige Schritte. Der Wind fuhr so hart in die Segel, dass es sich anhörte wie ein Peitschenknall.
    Du bist nicht deine Mutter …
    »Das weiß ich!«, schrie ich und kämpfte darum, das Gleichgewicht zu halten. Warum musste sie das immer wieder sagen? Die Nachtwachen an Deck, die meinen Ausbruch gehört hatten, tuschelten erschrocken. Aber es war mir egal. Ich spürte, dass angesichts der banalen und offensichtlichen Worte der Göttin die Wut in mir aufstieg wie kochende Lava.
    Wo ist deine Macht?
    Bei den Göttern, was für eine Frage! Noch so ein sinnloses Echo meiner Vision. Die schwarze See türmte sich zu höheren Wellen auf, als ob sich das rastlose Ungeheuer immer stärker aufbäumte. »Willst du meine Macht sehen? Nun – hier ist sie!«, rief ich. Ich wirbelte herum, entdeckte eine kleine Truhe mit Griffen aus Seil und eilte hinüber, um sie über das Deck zu ziehen. Ich keuchte vor Wut und Enttäuschung. Wie kam Isis dazu, mich zu fragen, wo meine Macht war, wenn sie nichts tat, als zuzusehen, wie mir alles genommen wurde!
    Hatte man mir wirklich alles genommen?
    »Ja!«, wütete ich. »Alles!« Außer diesem hier , dachte ich. Ich stieg auf die schmierige Holzkiste und zog meine Sandalen aus. Ich lachte über diese Geste. Als würde es einen Unterschied machen, ob ich die Sandalen trug oder nicht. Ich überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis das schwarze Wasser meine Lungen gefüllt hatte und ich in das Reich des Osiris übertreten konnte. Die Bordwand des Schiffes drückte sich kalt und feucht gegen meine Oberschenkel.
    Ich spürte kaltes Metall auf meiner Haut und zog den Dolch hervor – Mutters schönen Dolch, den sie, wie Katep behauptet hatte, versucht hatte, gegen sich selbst zu richten, als sie gefangengenommen wurde. Ich hatte immer geglaubt, dass sie ihren Angreifer damit töten
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