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Mönchsgesang

Mönchsgesang

Titel: Mönchsgesang
Autoren: Günter Krieger
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Rand seiner Pritsche, denn sein Rücken schmerzte unerträglich. Langsam begann er seine Umgebung wieder wahrzunehmen. Das Holzkreuz über der Tür seiner Zelle warf einen zitternden Schatten. Trotz seiner fast spürbaren Bedrohlichkeit war das Zeichen von Golgatha dem Mönch ein Relikt des Trostes und des Friedens. Bei seinem Anblick schöpfte er wieder Kraft, glaubte er die Weisheit seines Geistes erneut zu verspüren.
    Ach, Weisheit! Fast ein ganzes Leben hatte er sich mit Büchern beschäftigt. Bis man ihn im vergangenen Jahr seines Amtes als Bibliothekar enthoben und einen jungen Mitbruder zu seinem Nachfolger bestimmt hatte.
    »Euer Augenlicht wird schlechter und schlechter«, hatte der Prior zu ihm gesagt, »ich kann es nicht länger gutheißen, dass Eure Sehkraft ein Opfer der Bücher wird!«
    Stattdessen hatte man ihn zum Sakristan ernannt. Da er dem Orden schon vor langer Zeit Gehorsam gelobt hatte, versuchte er, die Entscheidung des Priors zu akzeptieren. Er versuchte auch, seinem Mitbruder und Nachfolger in der Bibliothek nicht zu zürnen. Dies allerdings gelang ihm nur mit mäßigem Erfolg. Auch jetzt, in dieser ruhelosen Nacht, bemerkte der Mönch wieder einmal erschrocken, wie seine Fäuste sich ballten, sobald das Bild seines Mitbruders vor seinem geistigen Auge auftauchte.
    »Ich muss beten«, sagte er hastig zu sich selber, erhob sich von seiner Schlafstätte und schlüpfte in seine Sandalen. Er schritt zu einer hölzernen Truhe, auf der er vor einigen Stunden seine Kutte abgelegt hatte. Er nahm das sorgsam gefaltete Kleidungsstück, breitete es mit rituellen Bewegungen aus und stülpte es über seinen Kopf. Andächtig zupfte er die Falten heraus, schnürte die Kordel vor seinem Bauch, strich dann liebevoll über das eingenähte Zeichen auf seiner Brust, jenem Kreuz mit rotem Stamm und weißem Querbalken. Er war immer noch stolz, ein Kreuzbruder zu sein, ein Streiter Christi auf Erden.
    Er nahm die Kerze, griff nach dem Schlüsselbund, der an einem Nagel neben der Tür baumelte, und verließ leise seine Zelle.
    Das Licht der Kerze vermochte den kahlen Flur nur mäßig zu erhellen, doch der alte Mönch hätte den Weg auch blind gefunden. Hinter der Zellentür eines Mitbruders war ein lautes Schnarchen zu vernehmen, ansonsten war es totenstill. »Wie könnt ihr bloß schlafen, Brüder«, murmelte der Alte still vor sich hin. »Wie könnt ihr schlafen, während der Teufel wie ein brüllender Löwe umhergeht und suchet, welchen er verschlinge.«
    »Ist alles in Ordnung, Bruder?«
    Der Alte zuckte zusammen und fuhr herum.
    »Ist alles in Ordnung?«, wiederholte sein Mitbruder und warf ihm einen besorgten Blick zu.
    »Sicher!«
    »Die Nacht ist lang und unsere Träume sind kurz, nicht wahr, Bruder in Christo? Leidet Ihr manchmal auch unter Schlafstörungen?«
    »Unsinn!« Der Alte begann sich über die vorwitzige Neugierde des anderen zu ärgern. »Ich muss zur Latrine, das ist alles. Erreicht Ihr erst mal mein Alter, Bruder Naseweis.«
    Er ließ den Verdutzten stehen und stieg eine steinerne Wendeltreppe hinab. Die herben Düfte des umliegenden Waldes krochen in seine Nase, als er den Kreuzgang erreichte. Aber auch der schale Geruch kühler Asche und verbrannten Holzes lag immer noch in der Luft, obwohl seit dem unheilvollen Brand bereits drei Tage verstrichen waren. Irgendwo schrie ein Kauz.
    Der Alte grunzte verärgert. Zur Latrine! Warum hatte er dem jüngeren Mitbruder nicht einfach die Wahrheit gesagt? Er wollte doch nur beten. Beten für das Heil aller Mönche in diesem Konvent, beten für alle Menschen auf dieser elenden Welt. Warum hatte er gelogen? Wie sollte er jemals die angestrebte Weisheit erlangen, wenn er die Latrine zur Wahrheit und das Gebet zur Lüge machte? »Satans Wirken«, fluchte er leise. »Ich muss beten!«
    Er hatte die Seitentür der Klosterkirche erreicht. Mit zitternden Händen zückte er den Schlüssel und trat leise in das Gotteshaus. Die Figuren einiger Heiliger wirkten im fahlen Licht der Kerze wie lauernde Dämonen, doch der Alte vertrieb solche Gedanken. Es sind Heilige, redete er sich ein, Menschen, die einst gelebt haben und Gott näher waren, als ich es jemals sein werde! Obwohl er hier Trost und Zuflucht gesucht hatte, merkte er, dass das Gefühl der Angst und Hilflosigkeit in ihm immer größer wurde. Vergeblich suchte er das Kreuz des Erlösers im Schatten der Apsis hinter dem Altar, doch das Kerzenlicht war einfach zu schwach. Er schlug ein hastiges Kreuzzeichen
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