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Mönchsgesang

Mönchsgesang

Titel: Mönchsgesang
Autoren: Günter Krieger
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etwa begegnet?«
    »Gott behüte! Und wenn er mir begegnet, dann …« Der Alte unterbrach sich abrupt, als er sah, wie der vornehme Herr vor ihm auf seinem Pferd plötzlich zu wanken begann. Das Gesicht des Kaisers war kreidebleich geworden und er griff sich an die Brust.
    »Herr, was ist mit Euch?«
    Der Kaiser schnappte nach Luft. Sein Blick richtete sich zum Himmel, als er seitlich aus dem Sattel kippte und unsanft im Gras landete. Er bemühte sich wieder aufzustehen, doch der Druck in seiner Brust wurde unerträglich, so dass er sich stöhnend auf den Rücken rollte. »Maria, süße Königin, stehe mir bei«, flüsterte er.
    Der alte Bauer schaute sich Hilfe suchend um und zupfte nervös an seinem Wams. »Herr? Bitte, Ihr müsst aufstehen«, stammelte er. Dann erst bemerkte er die drei Reiter, die sich ihm rasch näherten.
    Zwei Ritter schwangen sich aus dem Sattel und stießen den Alten unsanft beiseite. Auch die beiden Hunde, die winselnd an ihrem Herrn schnupperten, wurden verscheucht.
    »Majestät!«, rief der eine und ließ sich auf die Knie sinken. Schwer atmend suchte er den Leib seines Herrn nach Lebenszeichen ab.
    »Majestät …?«, traute sich der Bauer leise zu fragen.
    »Was ist mit ihm?«, schrie der zweite Ritter.
    Sein Gefährte sah ihn fassungslos an. »Ich glaube, er ist tot«, sagte er heiser.
    »Was soll das heißen, du glaubst es?« Mit einer fahrigen Bewegung winkte er den Knappen zu sich heran, der immer noch auf seinem Pferd saß und das Drama mit offenem Mund verfolgte.
    »Reite so schnell du kannst zum Kloster. Sie sollen sofort einen Heilkundigen herschicken. Sag ihnen, der Kaiser liegt im Sterben. Los, vorwärts!«
    Der Knappe nickte eifrig und trieb schnalzend sein Pferd an. Und während der Reiter immer kleiner wurde, das Hufgetrampel immer ferner, während im fernen Avignon der Bannspruch gegen Ludovicus bavarus erneuert wurde, hatte die Seele des Kaisers längst ihren langen Weg zum allmächtigen Schöpfer angetreten.

1
    Ende September 1349
    D ie milchig trüben Augen des alten Mönches stierten auf die weißgekalkten Wände seiner Zelle. Seit Stunden wälzte er sich auf seiner Pritsche, den greisen Kopf voller Gedanken, voller Stimmen, die ihm mal dies, mal jenes einhauchten. Die Dämonen der Nacht umschwirrten ihn wie lästige Fliegen; eine brennende Talgkerze auf einem wackligen Holztisch in der Mitte der Zelle ließ die Schatten des spärlichen Mobiliars gespenstisch tanzen. Der Alte achtete nicht auf die tanzenden Schatten. Selbst wenn ein plötzlicher Luftzug die Flamme der Kerze gelöscht hätte – er hätte es nicht bemerkt. Und das nicht wegen seiner nachlassenden Sehkraft, nein, seine Gedanken kreisten beharrlich um die Geschehnisse der letzten Tage, jene Ereignisse, von denen nur er selbst und die betroffenen Sünder wussten. Schlaf? Daran war nicht zu denken. Sein alternder Körper brauchte ohnehin nicht mehr so viel Schlaf wie früher. Vielmehr zermarterte er sein Hirn über die Frage, ob er seine Beobachtungen dem Prior mitteilen sollte. Aber stand ihm das zu? War es richtig, ein Mitglied der Klostergemeinschaft zu denunzieren, bevor dieses seine Taten als Sünde erkannt und Buße getan hatte? Sollte er sich nicht zuerst den Sünder noch einmal selbst vornehmen und ihn von der Notwendigkeit der Sühne überzeugen?
    Er faltete die runzligen Hände über seiner Brust zusammen und stöhnte leise. Gewiss, er hatte dem anderen mit ein paar unzweideutigen Bemerkungen zu verstehen gegeben, dass er über die Sache Bescheid wusste. Doch der Törichte hatte sich dumm gestellt, hatte behauptet, er wisse nicht, wovon der Alte spreche. Er hatte keine Miene verzogen, kein verräterisches Zucken in seinem Gesicht hatte auf irgendwelche Seelenqualen schließen lassen, und seine Augen waren kalt geblieben wie das Meer. Dann hatte er den Mahnenden einfach stehen lassen, als sei dieser nicht ganz bei Sinnen.
    Weisheit! Der Alte hatte geglaubt, in seinem Alter an unendlicher Weisheit gewonnen zu haben. Und nun musste er feststellen, dass es mit dieser Weisheit nicht weit her war. Er beschäftigte sich mit einem Problem, das mit seiner eigenen Person so gut wie nichts zu tun hatte, zerbrach sich den Kopf über das Seelenheil der anderen. Und obwohl er wusste, dass es dem Allmächtigen sicherlich gefallen würde, sich um das Heil der anderen zu sorgen, so war er dennoch unschlüssig, welchen Weg er nun einschlagen sollte.
    Er richtete sich mühsam auf, setzte sich ächzend auf den
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