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Mit reinem Gewissen

Mit reinem Gewissen

Titel: Mit reinem Gewissen
Autoren: Wolfram Joachim und Wette Perels
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Konzentrationslager Flossenbürg zum Tode verurteilt wurden, galt dem Bundesgerichtshof 1956, in dem der frühere Wehrmachtrichter Mantel als Berichterstatter fungierte, als rechtmäßig, weil man auch dem nationalsozialistischen Staat das »Recht auf Selbstbehauptung« nicht absprechen könne. Es war kein Zufall, dass die Frage, ob das SS-Gericht »gesetzliches Unrecht« (Radbruch) praktizierte, nicht aufgeworfen wurde, obgleich dies angesichts der Durchbrechung rechtsstaatlicher Verfahrensregeln – des Fehlens eines Verteidigers, des Einsatzes eines KZ-Kommandanten als Beisitzer, der kraft Amts für die Zerstörung der Freiheit der Person zuständig war – geboten war.
    Für die gerichtliche Absicherung einer von der Ministerialbürokratie in einem Nebengesetz versteckten, vom Deutschen Bundestag 1968 ermöglichten Amnestie von Schreibtischtätern der SS, die in der Neufassung des § 50 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs |20| verborgen war, spielte der ehemalige Wehrmachtrichter Börker eine zentrale Rolle. Er war 1968/69 Berichterstatter des 5. Senats des Bundesgerichtshofs. Da die neue Norm zwischen tat- und täterbezogenen Merkmalen unterschied, war es möglich, die Besserstellung von Beamten des Reichssicherheitshauptamts, die massenhafte Tötungen vor allem von Juden angeordnet hatten, herbeizuführen. Tötungsbürokraten wiesen »lediglich« tatbezogene, nicht aber täterbezogene Merkmale auf. Befehlstaten konnten wegen der Verjährungsfrist von 15 Jahren nach 1960 nicht mehr verfolgt werden. Dabei wurden die für die Ingangsetzung der Tötungen Verantwortlichen gegenüber den Tatausführenden privilegiert und der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt, an den auch die Justiz gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG). Für den Berichterstatter und ehemaligen Wehrmachtrichter spielte dies jedoch keine Rolle. Entsprechend wurde der Kriminalbeamte der Sicherheitspolizei in Krakau, der die Tötung von Juden angeordnet hatte, vom Bundesgerichtshof außer Verfolgung gesetzt, obgleich eine Expertise des Generalbundesanwalts Martin vorlag. Martin hatte in einem Beitrag für die »Neue Juristische Wochenschrift« dargelegt, dass die Interpretation des neuen § 50 Abs. 2 StGB sich nach den Maßstäben des Gleichheitssatzes zu richten habe, die eine Bevorzugung derer, die Mordbefehle erteilen, ausschließt.
    Eine vergleichbare Rolle wie die beiden erwähnten Richter spielte der Wehrmachtrichter und spätere Amtsgerichtsdirektor Massengeil. Er entwickelte die These, jene Richter, die als überzeugte Nationalsozialisten ihre Opfer aufs Schafott geschickt hatten, hätten keinen Vorsatz für eine Rechtsbeugung besessen, denn sie hätten mit ihrer gesetzlich festgelegten Rolle vollständig übereingestimmt. So wurde gerade der überzeugte Nationalsozialist exkulpiert. Gegen diese Argumentation, die dem grundrechtsnegierenden NS-System unter den Bedingungen der Geltung der Freiheitsrechte weiterhin Geltung zusprach, wandten sich vor allem Günter Spendel und Fritz Bauer. Die Frage der Rechtsbeugung ist nach rechtsstaatlichen Kriterien und nicht nach den Maßstäben des Systems planmäßiger Willkür zu beurteilen. Das bedeutet: Eine Beugung des Rechts auf |21| Leben, das der NS-Staat umfassend zur Disposition stellte, das aber das Grundgesetz (Art. 2 GG) garantiert, impliziert nach den Kriterien des Rechtsstaats mindestens bedingten Vorsatz. Rechtsblindheit, die in der Übernahme der NS-Herrschafts doktrin besteht, schließt insofern den Vorsatz nicht aus. Doch diese Position spielte bei der durchgängigen Einstellung von Verfahren gegen NS-Richter und Staatsanwälte keine Rolle.
    Über 50 Jahre nach Kriegsende hob der demokratische Gesetzgeber, beginnend im Jahre 1998, in mehreren Anläufen – zuletzt mit der Annullierung der Norm des Kriegsverrats, der auch auf Retter von Juden angewandt wurde – sämtliche Unrechtsurteile des Hitler-Regimes auf. Für viele Opfer und ihre Angehörigen kam die Entscheidung zu spät. Sie lebten nicht mehr. Gleichwohl ist die gesetzliche Entlegitimierung der NS-Justiz auch für eine kritische Analyse der Geschichte der Bundesrepublik relevant. Sie liefert rechtsstaatliche Maßstäbe für die Analyse der Justiz der frühen Bundesrepublik, die lange Jahre die Menschenwürde der Opfer der NS-Justiz missachtete, als gäbe es das Grundgesetz nicht.

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