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Mit Blindheit Geschlagen

Mit Blindheit Geschlagen

Titel: Mit Blindheit Geschlagen
Autoren: Christian Ditfurth
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Er hielt dem Gefangenen zwei Fotos hin. Das eine zeigte eine Frau, das andere einen Mann, etwa im Alter des Gefangenen. Der Vernehmer schaute den Gefangenen freundlich an. »Sie sollten unserem Staat dankbar sein. Er hat Ihnen eine ausgezeichnete Schulbildung gegeben, er hat Sie studieren lassen. Das dürfen nicht alle.«
    Der Gefangene überlegte, ob es nicht besser wäre, dem Mann alles zu erzählen. Er saß erst kurz im Gefängnis und war schon fertig mit den Nerven. Er überlegte, wie er sich fühlen würde, wenn sie ihn zurückbrachten in die Zelle.
    »Wenn Sie kein Unmensch wären, würden Sie mich nicht in diese Betonhöhle sperren«, sagte er trotzig.
    »Seien Sie froh, dass Sie nicht im U-Boot sitzen. Da haben wir ein paar Zellen im Keller, auf die dieser Name wunderbar passt. Da gibt es nur Kunstlicht, kein Wasserklosett, sondern einen Eimer. Es liegt ganz an Ihnen, ob und wann Sie ins U-Boot verlegt werden. Wenn Sie wollen, kriegen wir das gleich hin.« Er rieb seine Hände aneinander. Der Gefangene entdeckte einen Ehering am Finger des Vernehmers. Er fragte sich, ob die Frau wusste, was der Mann tat. Dann dachte er über die Vorschläge des Vernehmers nach. Warum sollte er nicht gestehen, was sie ohnehin wussten?
    »Ich wollte die Grenzsicherung anschauen«, sagte er.
    »Das ist alles.«
    »Um Republikflucht zu begehen«, sagte der Vernehmer freundlich.
    »Ich habe mit dem Gedanken gespielt.«
    »Und das, obwohl unser Staat es gut meinte mit Ihnen. Ich verstehe Sie nicht. Außerdem, ob versuchte Republikflucht oder vollendete, es ist beides strafbar.«
    »Ich sagte doch, ich habe mit dem Gedanken gespielt. Ich habe nichts versucht oder vorbereitet.«
    »Der Gedanke ist schon strafbar.«
    »Das ist absurd«, sagte der Gefangene.
    »Das ist das Gesetz. Wir leben in einem Rechtsstaat. Und das heißt auch, dass sich jeder an das Gesetz halten muss.«
    Es war fast ein gemütliches Gespräch. Der Vernehmer war geduldig und erklärte dem Gefangenen, was Recht war und was Unrecht. »Also, Sie geben zu, Sie haben an Flucht gedacht.«
    »Manchmal«, sagte der Gefangene.
    Der Vernehmer schrieb etwas auf.
    »Aber ich war nicht fertig mit dem Denken.«
    »Weit genug, um an der Küste Ausschau zu halten nach der Grenzsicherung.«
    »Es war mehr ein Spazierengehen.«
    »Nun widersprechen Sie sich aber. Unter Spazierengehen verstehe ich was anderes.«
    »Was ist mit der Frau?«, fragte der Gefangene.
    »Welcher Frau?«
    »Der auf dem Foto.«
    »Die sitzt ganz in Ihrer Nähe.«

4
    Oswald Meyerbeck blickte über den Hamburger Hafen. Er saß im siebten Stock seines Büros in der Nähe der Landungsbrükken und sagte nichts. Stachelmann staunte über das Panorama, das dieser Mann jeden Tag genoss beim Blick durch die Glasfront an der Hafenseite. Sie hatten sich begrüßt, Meyerbeck hatte Stachelmann einen Platz in der Sitzecke angeboten und gefragt, ob er etwas trinken wolle. Stachelmann hatte abgelehnt und wartete auf die Fragen und Wünsche des Werftbesitzers. Währenddessen bewunderte er die beiden Gemälde, eines hinter dem Schreibtisch, das andere an der Wand gegenüber der Glasfront. Kokoschka, erkannte er, wahrscheinlich Originale. Aber er fragte nicht. Meyerbeck kratzte sich an der Nase, dann schaute er Stachelmann an durch eine dicke Hornbrille, hinter der die Pupillen verschwammen.
    »Wissen Sie, die Sache ist nicht einfach, und dies aus zwei Gründen.« Er hatte eine tiefe Stimme, die man dem schmächtigen Mann nicht zugetraut hätte. Und er sprach langsam wie einer, der sich das Recht nahm, über die Zeit anderer Leute zu bestimmen. »Der erste Grund liegt in der Sache selbst. Der zweite in Ihrer Person. Fangen wir bei Punkt eins an. Wissen Sie, die Meyerbeck-Werft AG gibt es seit zweiundsiebzig Jahren. 1931, mitten in der großen Krise, kaufte mein Großvater zwei kleine Werften auf und vereinigte sie mit der eigenen. Das war ein genialer Schachzug, denn in dieser Zeit konnte man Firmen für ein Spottgeld erwerben. Bald war die Krise überwunden, und die Nazis rüsteten auf. Die Werft wuchs schnell und verdiente gut. Dafür mussten sich mein Großvater und mein Vater anhören, sie seien Kriegsprofiteure gewesen.«
    Er strich sich wieder über die Nase. Dann setzte er die Brille ab und legte sie auf den Tisch. »Wissen Sie, das war hart, aber gerecht. Natürlich hatten sie von der Aufrüstung profitiert, aber keineswegs so, wie sich das die Besserwisser ausgerechnet hatten. Denn erstens wurden große Teile der
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