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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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Schwachkopf kann Auto fahren.«
    Sie sah ihn an, und dann kicherte sie plötzlich, und er lachte auch, ohne es zu wollen, während ihr Kichern immer heftiger wurde, so heftig, dass ihr die Tränen kamen und sie anhalten und das weiße Taschentuch nehmen musste, das er ihr hinstreckte. Sie setzte die Brille ab, und er schaute aus seinem Fenster, solange sie mit dem Taschentuch beschäftigt war. In dem Schnee wirkten die Wälder entlang der Straße wie ein Schwarzweißbild. Selbst die immergrünen Zweige der Kiefern sahen dunkel aus über den schwarzen Stämmen.
    »In Ordnung«, sagte Denise. Sie fuhr wieder an; wieder wurde Henry nach vorn geworfen. Wenn die Kupplung draufging, würde ihm Olive den Kopf abreißen.

    »Nichts passiert«, sagte er Denise. »Übung macht den Meister.«
    Nach ein paar Wochen fuhr er sie nach Augusta, wo sie die Fahrprüfung bestand, und dann ging er mit ihr ein Auto kaufen. Geld genug hatte sie. Henry Thibodeau hatte eine gute Lebensversicherung gehabt, wie sich herausstellte, immerhin etwas. Jetzt half Henry Kitteridge ihr dabei, das Auto zu versichern, erklärte ihr, wie sie die Zahlungen regeln musste. Davor war er mit ihr auf der Bank gewesen, und zum ersten Mal in ihrem Leben besaß sie nun ein Girokonto. Er hatte ihr gezeigt, wie man einen Scheck ausschrieb.
    Er war entsetzt, als sie eines Tages in der Arbeit die Summen erwähnte, die sie Unserer Lieben Frau von der Buße zukommen ließ, damit jede Woche eine Kerze für Henry angezündet und einmal monatlich eine Messe für ihn gelesen wurde. »Das ist schön, Denise«, sagte er. Sie hatte abgenommen. Wenn er am Ende des Tages unter der Lampe an der Hauswand stand und sie über den dunklen Parkplatz davonfahren sah, den Kopf so ängstlich über das Lenkrad gereckt, gab es ihm einen Stich, und beim Heimfahren in seinem eigenen Wagen packte ihn eine Traurigkeit, die er den ganzen Abend nicht abschütteln konnte.
    »Was zum Teufel ist los mit dir?«, fragte Olive.
    »Denise«, sagte er. »Sie ist hilflos.«
    »Die Leute sind nie so hilflos, wie man denkt«, erwiderte Olive. Und indem sie den Deckel auf einen Topf auf dem Herd knallte: »Gott, genau das habe ich befürchtet.«
    »Was hast du befürchtet?«
    »Lass einfach den verdammten Hund raus, ja?«, sagte Olive. »Und setz dich zum Essen.«
    Eine Wohnung fand sich in einer kleinen Neubauanlage ein Stück außerhalb. Denises Schwiegervater und Henry halfen, ihre wenigen Habseligkeiten hinzuschaffen. Die Wohnung
lag im Erdgeschoss und bekam nicht viel Licht. »Immerhin ist es sauber«, sagte Henry zu Denise, die den neuen Kühlschrank öffnete und in die blanke, gähnende Leere starrte. Sie nickte nur, drückte die Tür wieder zu. Leise sagte sie: »Ich habe noch nie allein gelebt.«
     
    In der Apotheke ging sie herum wie in Trance, und es machte sein eigenes Leben in einem Maß unerträglich, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Es war eine Überreaktion, das war ihm klar. Aber es beunruhigte ihn; Fehler schlichen sich ein. Er vergaß, Cliff Mott eine Banane täglich zu empfehlen, weil das harntreibende Mittel, das er zu seinem Digitalis verschrieben bekommen hatte, den Kaliumbedarf erhöhte. Die alte Mrs. Tibbets verbrachte eine schlimme Nacht, nachdem sie Erythromyzin genommen hatte - hatte er ihr nicht gesagt, dass man es zum Essen einnahm? Er arbeitete langsam, zählte seine Pillen manchmal doppelt und dreifach, bevor er sie in ihre Fläschchen füllte, überprüfte mehrmals die Rezepte, die er tippte. Daheim fixierte er Olive mit weit aufgerissenen Augen, wenn sie sprach, damit sie wusste, dass er ihr zuhörte. Aber er hörte ihr nicht zu. Olive war eine furchterregende Fremde; sein Sohn feixte ihn an. »Bring den Müll raus!«, schrie Henry eines Abends, als er das Türchen unter der Spüle öffnete und eine Tüte mit Eierschalen, Hundehaaren und zusammengeknülltem Wachspapier fand. »Das ist das Einzige, was wir von dir verlangen, und nicht mal das schaffst du!«
    »Hör auf, rumzubrüllen«, befahl Olive ihm. »Meinst du, dadurch wirkst du männlicher? Wie unglaublich jämmerlich.«
    Der Frühling kam. Die Tage wurden länger, die letzten Schneereste schmolzen, die Straßen glänzten vor Nässe. Forsythien tupften die kalte Luft mit Wolken aus Gelb, dann reckten die Rhododendren der Welt ihre kreischend roten
Köpfe entgegen. Er sah alles durch die Augen von Denise und empfand die Schönheit als Angriff. Vor der Farm der Caldwells stand ein handgemaltes Schild an
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