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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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Denise lachte und Jerry auch, wobei er rot anlief.
     
    Herbst nun, November, und so viele Jahre später, dass Henry, als er sich an diesem Sonntagmorgen kämmt, einige graue Haare zwischen den schwarzen Plastikzähnen herauszupfen muss, ehe er den Kamm wieder in die Tasche steckt. Er macht für Olive noch ein Feuer im Kamin, bevor er zur Kirche aufbricht. »Bring mir ein bisschen Tratsch mit«, sagt Olive zu ihm und zieht ihren Pullover herunter, den Blick in einen großen Topf gerichtet, in dem Äpfel schmurgeln. Sie kocht Apfelmus aus den letzten Äpfeln des Jahres, und der Geruch - süß, vertraut, alte Sehnsüchte wachkitzelnd - weht ihn kurz an, als er mit Tweedjacke und Krawatte zur Tür geht.
    »Ich geb mir Mühe«, sagt er. Niemand scheint heutzutage mehr einen Anzug in die Kirche anzuziehen.
    Ohnehin gibt es nur noch eine Handvoll regelmäßiger Kirchgänger in der Gemeinde. Das bekümmert Henry, und es macht ihm Sorgen. Sie hatten zwei verschiedene Pfarrer in den letzten fünf Jahren, und beide haben auf der Kanzel alles andere als inspiriert gewirkt. Der jetzige, ein Bärtiger, der ohne Talar predigt, wird ihnen auch nicht lange erhalten bleiben, vermutet Henry. Er ist jung, und seine Familie wächst, er wird bald weiterziehen. So spärlich, wie die Gottesdienste besucht sind, fürchtet Henry, auch andere könnten gespürt haben, was er selbst zunehmend abzuleugnen versucht: dass von dieser wöchentlichen Zusammenkunft nichts wirklich Tröstliches mehr ausgeht. Wenn sie die Köpfe beugen oder einen Psalm singen, fehlt jetzt - für Henry - das Gefühl, dass Gottes Gegenwart sie segnet. Aus Olive ist eine radikale Atheistin geworden. Er weiß nicht, wann das passiert ist; zu Anfang ihrer Ehe war sie es jedenfalls nicht. In ihrem Biologiekurs
am College haben sie über das Sezieren von Tieren diskutiert; schon allein das Atmungssystem sei ein Wunder, fanden sie damals, die Schöpfung einer wunderbaren Macht.
    Er rumpelt den Fahrweg entlang, biegt dann in die Asphaltstraße ein, die zur Stadt führt. Nur ein paar tiefrote Blätter hängen noch in den kahlen Zweigen der Ahornbäume, die Eichenblätter sind rostbraun und runzlig; ganz kurz kommt zwischen den Stämmen die Bucht in Sicht, stumpf und stahlgrau heute unter dem verhangenen Novemberhimmel.
    Hier vorne stand früher die Apotheke. Sie ist einem großen Drogeriemarkt mit riesigen gläsernen Gleittüren gewichen, so groß wie die alte Apotheke und der Lebensmittelladen zusammen, ja selbst die Kiesfläche mit den Mülltonnen, wo Henry nach Feierabend so oft noch mit Denise geschwatzt hat, bevor sie in ihre getrennten Autos stiegen und heimfuhren, ist diesem Laden einverleibt worden, in dem es nicht nur Arzneimittel zu kaufen gibt, sondern auch überdimensionale Rollen Küchenpapier und Mülltüten in allen Größen, Teller und Tassen, Bratenwender und Katzenfutter. Die Bäume an der Seite hat man gefällt, um Parkraum zu schaffen. Man gewöhnt sich an so vieles, denkt er, ohne sich daran zu gewöhnen.
    Es scheint sehr lange her, dass Denise dort fröstelnd in der Winterkälte stand, bevor sie schließlich ins Auto stieg. Wie jung sie war! Wie schmerzlich, an ihr verstörtes Gesicht zurückzudenken; aber gleichzeitig erinnert er sich doch auch, wie er sie zum Lächeln bringen konnte. Jetzt, so weit weg im fernen Texas (so fern, dass es fast ein fremdes Land scheint), ist sie so alt wie er damals. Einmal war ihr ein roter Fäustling zu Boden gefallen, und er hat sich danach gebückt - hat das Bündchen für sie aufgespreizt und zugesehen, wie ihre kleine Hand darin verschwand.

    Die weiße Kirche steht dicht bei den kahlen Ahornbäumen. Er weiß, weshalb er dauernd an Denise denken muss. Letzte Woche ist die Geburtstagskarte ausgeblieben, die sie ihm seit zwanzig Jahren schickt, unfehlbar pünktlich bis jetzt. Sie schreibt immer ein paar Zeilen dazu. Manchmal stechen ein, zwei Sätze heraus, wie letztes Jahr, als sie erwähnt hat, dass Paul, der die unterste High-School-Klasse besucht, fettleibig geworden ist. Ihr Wort. »Paul hat inzwischen ein echtes Problem - mit seinen dreihundert Pfund ist er fettleibig.« Sie sagt nichts darüber, was sie oder ihr Mann dagegen zu tun gedenken, wenn sich denn etwas »tun« lässt. Die Zwillingstöchter, jünger, sind beide sportlich und fangen schon an, Anrufe von Jungs zu bekommen, »was mir echt Angst macht«, hat Denise geschrieben. Sie setzt nie ein »Alles Liebe« oder »Liebe Grüße« darunter, immer nur ihren
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