Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
Vom Netzwerk:
Namen in ihrer kleinen, ordentlichen Handschrift, »Denise«.
    Auf dem gekiesten Vorplatz der Kirche steigt gerade Daisy Foster aus ihrem Auto, und sie reißt in einem übertriebenen Ausdruck freudiger Überraschung den Mund auf, aber die Freude ist echt, das weiß er - Daisy freut sich immer, ihn zu sehen. Daisy hat vor zwei Jahren ihren Mann verloren, einen pensionierten Polizisten, fünfundzwanzig Jahre älter als sie, der sich zu Tode geraucht hat; sie sieht immer gleich hübsch und lieb aus mit ihren netten blauen Augen. Was aus ihr werden wird, weiß Henry nicht. Frauen sind so viel tapferer als Männer, überlegt er, während er seinen üblichen Platz in der mittleren Bank einnimmt. Die bloße Vorstellung, dass Olive stirbt und er allein zurückbleibt, scheint ihm der Vorgeschmack eines Grauens, das nicht zu ertragen ist.
    Und damit ist er mit seinen Gedanken wieder bei der Apotheke, die es nicht mehr gibt.

    »Henry geht dieses Wochenende jagen«, sagte Denise an einem Novembermorgen. »Jagen Sie auch, Henry?« Sie zählte Geld in die Kasse und sah nicht zu ihm hoch.
    »Früher mal«, antwortete Henry. »Für so was bin ich zu alt.« Das eine Mal, dass er als Junger eine Hirschkuh erlegt hatte, war ihm ganz elend geworden von dem Anblick: der hübsche, hochgerissene Kopf, der von einer Seite zur anderen pendelte, ehe die dünnen Beine einknickten und das Tier auf dem Waldboden zusammenbrach. »Gott, bist du ein Sensibelchen«, hatte Olive gesagt.
    »Henry geht mit Tony Kuzio.« Denise schob die Lade zu und kam um die Kasse herum, um die Pfefferminzdragees und Kaugummis umzuordnen, die säuberlich auf dem Tresen auslagen. »Seinem besten Freund, seit er fünf war.«
    »Und was macht Tony jetzt?«
    »Tony ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Er arbeitet für Midcoast Power und streitet mit seiner Frau.« Denise warf einen Blick zu Henry herüber. »Aber sagen Sie nicht, dass ich das gesagt habe.«
    »Nein.«
    »Sie ist dauernd angespannt und macht Szenen. So würde ich nicht leben wollen, echt nicht.«
    »Nein, das ist kein Leben.«
    Das Telefon klingelte, und Denise vollführte eine spielerische Halbpirouette und ging an den Apparat. »Stadtapotheke, guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?« Eine Pause. »Aber sicher haben wir Multivitaminpräparate ohne Eisen … Nichts zu danken.«
    In der Mittagspause erzählte Denise dem ungeschlachten, pausbäckigen Jerry: »Mein Mann hat pausenlos von Tony geredet, als wir uns kennengelernt haben. Von dem vielen Unsinn, den sie als kleine Jungs angestellt haben. Einmal sind sie losgezogen und kamen erst zurück, als es schon dunkel
war, und Tonys Mutter sagte zu ihm: ›Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht, Tony, ich könnte dich umbringen.‹« Denise zupfte eine Fluse vom Ärmel ihres grauen Pullovers. »Das fand ich immer so lustig. Sich Sorgen machen, ihr Kind könnte tot sein, und es dann umbringen wollen.«
    »Sie werden schon sehen« - Henry Kitteridge trat hinter den Kisten hervor, die Jerry ins Lager geschleppt hatte -, »von ihrem allerersten Fieber an hören Sie keine Sekunde auf, sich zu sorgen. Warten Sie’s nur ab.«
    »Ich will ja gerade nicht warten«, sagte Denise, und zum ersten Mal machte Henry sich klar, dass sie bald Kinder bekommen und nicht mehr bei ihm arbeiten würde.
    Unerwartet meldete sich Jerry zu Wort. »Magst du ihn leiden? Tony? Versteht ihr euch?«
    »Doch, ich mag ihn«, sagte Denise. »Gott sei Dank. Ich hatte erst richtig Angst, ihn kennenzulernen. Hast du noch einen besten Freund von ganz früher?«
    »Schon«, sagte Jerry, und das Blut stieg ihm in die dicken, glatten Backen. »Aber irgendwie haben wir nicht mehr richtig viel miteinander zu tun.«
    »Meine beste Freundin«, sagte Denise, »ich weiß nicht, sie ist so ein bisschen forsch geworden, als wir in die Junior High School gekommen sind. Möchtest du noch eine Limo?«
    Ein Samstag zu Hause, zum Mittagessen Krebsfleischsandwiches, mit Käse überbacken. Christopher wollte schon in seins hineinbeißen, da klingelte das Telefon, und Olive ging hin. Christopher wartete, ohne dass man ihn darum bitten musste, das Sandwich in der erhobenen Hand. Es prägte sich Henry unauslöschlich ein, dieses instinktive Innehalten seines Sohns in demselben Moment, in dem sie von nebenan Olives Stimme hörten. »Oh, Sie armes Kind«, sagte Olive in einem Ton, den Henry niemals vergessen würde - so voller Bestürzung,
dass ihr ganzes äußeres Olive-tum von ihr abzufallen schien.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher