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Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge

Titel: Mit Blick aufs Meer - Mit Blick aufs Meer - Olive Kitteridge
Autoren: Elizabeth Strout
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Und er begriff, dass der Tod ihres Mannes für sie auch das Ende ihrer Mädchenzeit bedeutet hatte, dass sie um das einzige Ich trauerte, das sie bis dahin gekannt hatte und das nun ausgelöscht war, verdrängt durch diese neue, ratlose junge Witwe. Sein Blick begegnete ihrem und wurde weich.
    Hin und her ging es so, hin und her. Zum ersten Mal in seinem Apothekersleben genehmigte er sich Schlaftabletten, jeden Tag ließ er eine in seiner Hosentasche verschwinden. »Können wir, Denise?«, fragte er sie, wenn es Zeit zum Schließen war. Dann holte sie entweder stumm ihre Jacke, oder sie sah ihn mit Sanftheit im Blick an und sagte: »Wir können, Henry. Wieder ein Tag geschafft.«
     
    Daisy Foster dreht sich zu ihm um, als sie sich zum Singen erhebt, und lächelt ihm zu. Er nickt zurück und schlägt das Gesangbuch auf. »Stern, auf den ich schaue, Fels, auf dem ich steh’.« Die Worte, der dünne Gesang stimmen ihn hoffnungsvoll und tieftraurig zugleich. »Man kann einen Menschen auch lieben lernen«, hat er zu Denise gesagt, als sie ihn an dem Frühlingstag damals hinten im Lager aufsuchte, und während er nun das Gesangbuch in die Ablage zurücksteckt und sich wieder auf die schmale Bank setzt, wandern seine Gedanken zurück zu seiner letzten Begegnung mit ihr. Sie waren aus dem Süden gekommen, um Jerrys Eltern zu besuchen, und sie hatten mit ihrem kleinen Sohn Paul bei Henry und Olive vorbeigeschaut. Was Henry vor allem im Gedächtnis geblieben ist: Jerrys sarkastische Bemerkung darüber, dass Denise jeden Abend auf dem Sofa einschlief und manchmal die ganze Nacht dort lag. Und die Art, wie Denise sich wegdrehte und über die Bucht hinaussah - ihre kleinen Brüste hoben sich kaum ab unter dem dünnen Rollkragenpullover, aber dafür hatte sie einen Bauch bekommen, als hätte sie einen halben
Basketball verschluckt. Sie war kein Mädchen mehr - kein Mädchen blieb für immer Mädchen -, sondern eine Mutter, eine müde Mutter, und ihre runden Wangen waren so schmal geworden, wie ihr Bauch rund war, so dass es schon jetzt so wirkte, als drückte die Schwerkraft des Lebens sie nieder. Das war der Moment gewesen, als Jerry scharf sagte: »Denise, halt dich grade. Schultern zurück!« Er sah Henry an, schüttelte den Kopf. »X-mal hab ich ihr das schon gesagt.«
    »Wie wär’s mit einem Teller Fischsuppe?«, fragte Henry. »Olive hat sie gestern ganz frisch gekocht.« Aber sie mussten weiter, und als sie weg waren, verlor Henry kein Wort über ihren Besuch und Olive erstaunlicherweise auch nicht. Er hätte nie gedacht, dass Jerry sich zu dem Mann mausern würde, der er jetzt war, massig und (dank der Fürsorge von Denise) nicht unappetitlich, ja nicht einmal mehr richtig fett, einfach ein großer, dicker Mann mit einem großen, dicken Gehalt, der mit seiner Frau auf die gleiche Art sprach wie Olive manchmal mit Henry. Er hat Denise nicht wiedergesehen, obwohl sie in der Gegend gewesen sein muss. In ihren Geburtstagskarten hat sie vom Tod ihrer Mutter und ein paar Jahre später dem ihres Vaters berichtet. Ganz bestimmt ist sie zu den Beerdigungen hochgefahren. Denkt sie an ihn? Machen sie und Jerry halt, um das Grab von Henry Thibodeau zu besuchen?
    »Du siehst so frisch aus wie eine Blume auf der Wiese«, sagt er zu Daisy Foster auf dem Kirchenvorplatz. Das ist ein alter Scherz zwischen ihnen; er sagt es seit Jahren zu ihr.
    »Wie geht es Olive?« Daisys blaue Augen, unverändert groß und hübsch, lächeln wie stets.
    »Olive geht’s gut. Sie hütet das heimische Feuer. Und was gibt’s bei dir Neues?«
    »Ich habe einen Verehrer.« Das sagt sie sehr leise und legt dabei die Hand an den Mund.

    »Wirklich? Ach, Daisy, das freut mich für dich.« »Er verkauft tagsüber Versicherungen in Heathwick und führt mich freitags abends zum Tanzen aus.«
    »Ach, das freut mich«, sagt Henry noch einmal. »Ihr müsst mal zu uns zum Essen kommen.«
    »Warum müssen bei dir immer alle verheiratet sein?«, hat Christopher wütend gefragt, als Henry sich einmal nach dem Privatleben seines Sohnes zu erkundigen wagte. »Warum kannst du die Leute nicht einfach in Ruhe lassen?«
    Es ist Henrys Natur, sich um Leute zu kümmern.
     
    Zu Hause nickt Olive zum Tisch hinüber, wo an ein Usambaraveilchen gelehnt eine Karte von Denise steht. »Die kam gestern«, sagt Olive. »Hatte ich vergessen.«
    Henry setzt sich schwerfällig hin und öffnet sie mit einem Kugelschreiber, setzt seine Brille auf und überfliegt sie. Ihr Briefchen ist
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