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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut
Autoren: Adam Ross
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nicht schaffe?«
    »Alice …«
    »Es tut mir leid.«
    »Warum glaubst du, du schaffst es nicht?«
    »Weil es so lange dauert.«
    »Das stimmt.«
    »Weil es so langsam vorangeht.«
    »Weil du mittendrin steckst.«
    »Stecke ich mittendrin?«, fragte sie.
    »Wir haben über die Mitte geredet.«
    »Erklär es mir noch einmal.«
    »Die Mitte ist zäh und mühsam.«
    »Ich verliere meine Mitte beim Versuch, meine Mitte zu verlieren.« Sie lachte, dann weinte sie.
    »Ich stecke auch mittendrin«, sagte er.
    »Wirklich?«
    »In meinem Spiel.« In meinem Buch, dachte er. »Aber so ist das nun einmal in der Mitte. Es ist, als müsste man den Atem länger anhalten, als man eigentlich kann. Man ist kurz vor der Ohnmacht, dicht unter der Wasseroberfläche. Man ist auf den letzten Metern, kurz vorm Gipfel, aber von da an geht es nur noch bergab. Verstehst du das Prinzip?«
    »Nein.«
    »Du steckst nicht fest. Du kommst voran. Bloß, dass du es nicht sehen kannst. Aber ich kann es sehen.«
    »Oh, David, ich will einen Burrito. Ich will einen Chimichanga mit extra viel Käse.«
    »Aber du wirst durchhalten.«
    »Werde ich das?«
    »Du wirst widerstehen.«
    »Das werde ich!«
    »Du kannst es schaffen.«
    Diese Gespräche machten ihr Mut. Ihre Entschlusskraft war neu geboren. Nach der Schule unternahm sie lange Spaziergänge durch Uptown und durch den Central Park, hinauf bis zum Reservoir, einmal um die Aschenbahn und zurück. Das verschaffte David kostbare Stunden des Alleinseins. Er wandte sich wieder seinem Buch zu, zog den Karton unter dem Schreibtisch hervor und nahm die zuletzt geschriebenen Seiten heraus. Er brauchte eine neue Umgebung, etwas Abwechslung, deswegen zog er an den Küchentisch, klappte den Laptop auf und setzte sich davor. Er fühlte sich klar im Kopf. Konzentriert. Alles war in Ordnung. Er hatte das Gefühl, seit Jahren nicht mehr in Ruhe zum Schreiben gekommen zu sein.
    So könnte es immer sein, dachte David, wenn Alice nicht mehr da wäre.
    »Hallo?« Sie kam in die Küche und küsste ihn. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Wangen waren kalt und ein bisschen feucht. Sie schien den Winter hinter sich her und in die Wohnung hineinzuziehen. »Diesmal werde ich es schaffen. Ehrlich. Und alles nur deinetwegen!«
    Lächelnd stand sie vor ihm. Sie entdeckte den provisorischen Arbeitsplatz.
    »Hast du gearbeitet?«
    David drehte den Stift zwischen den Fingern. »Ich bin gerade fertig geworden.«
    Abends bereitete sie ihre Provianttüte für den nächsten Tag vor. Sie schlug das Sandwich so sorgfältig wie ein Geschenk in Folie ein. Sie klammerte die Papiertüte zu und schrieb mit schwarzem Filzstift MEIN MITTAGESSEN darauf, um sie dann liebevoll in den Kühlschrank zu stellen. Der gesamte Speisekammerinhalt war auf diese Art markiert: MEINE KEKSE, MEINE PFIRSICHE, MEIN THUNFISCH. Das Frühstück bereitete sie ebenfalls am Abend vor; Löffel, Messer und Serviette lagen einsatzbereit an ihrem Platz, dazwischen warteten die umgedrehte Müslischüssel und davor, wie ein breites Lächeln, die Banane. Ein kleines, einsames Stillleben, dachte David, als er im Licht des Kühlschranks auf den gedeckten Platz starrte und heimlich von Alice’ Vanille-Sojamilch trank (MEINE SOJAMILCH, stand auf dem Kreppband). Ihre Cornflakes (MEINE CORNFLAKES) standen neben dem Messbecher, auf dem ein Sportler – Fänger, Hürdenläufer, Basketballer – mitten im Anlauf oder im Sprung erstarrt war.
    »Zeit zum Schlafengehen«, sagte Alice.
    Sie krabbelte unter die Decke und langte neben das Bett, schnallte sich die Apnoemaske vors Gesicht und streckte sich auf dem Rücken aus, mit leerem Blick, die Gedanken fest auf das Traumbild der nächsten Mahlzeit gerichtet. Sieh nur, welchen Trost ihr der Gedanke ans Essen spendet, dachte David. Sie zählt Kalorien wie andere Leute Schäfchen.
    Sie schlief ein, sobald er das Licht ausgeknipst hatte.
    Wenn sie schlief, atmete sie in einem fröhlichen, melodischen, kindlichen Summton vor sich hin. Die Maschine surrte freundlich. David lag hellwach neben ihr und dachte an Escher X , an seinen Roman und an Alice’ Unfalltod. Aber dann hörte er sie atmen, und er empfand plötzlich eine unbeschreiblich große Sympathie für sie, ein Mitgefühl, das ganz offenbar ihre Reglosigkeit und Bewusstlosigkeit voraussetzte. Jeden Tag aufs Neue zog sie in eine Welt der Folterqualen hinaus. Er erinnerte sich an das dicke Mädchen, mit dem er zur Grundschule gegangen war und das er und die anderen Kinder erbarmungslos
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