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Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
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gelähmten Gesichtszüge äußerst effektvoll einzusetzen, und wir begleiten seine Figur bei ihrem düsteren, rauschartigen Kamikazelauf durch eine Vision der dunklen Seite Amerikas, die schlichter und bewegender ist als alles, was unsere eigenen Regisseure seit Langem hervorgebracht haben.
    Tough sein ist als männliche Tugend schon seit geraumer Zeit aus der Mode geraten. Takeshi verkörpert diese Tugend in Reinkultur, lässt zugleich aber auch die Wunde erahnen, die sich darunter verbirgt. Echte Toughness lässt sich ohne den Verweis auf diese Wunde gar nicht darstellen – sonst hätte man lediglich eine Pornografie des Faschismus.
    Takeshi ist tougher und tiefer verwundet als Sie oder ich es jemals sein werden. Und die unsichtbare und zielsichere Hand des Marketings wird wohl auch dafür sorgen, dass kein Hollywood-Star jemals so tough und tief verwundet sein wird wie er.
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    Beim Schreiben dieses Artikels wusste ich noch nicht, dass Bruce Sterling mit seiner Aussage zum Thema Übersetzungen Jorge Luis Borges zitierte.
    Wollen Sie sich einen Film von Takeshi Kitano ansehen, würde ich Sonatine empfehlen.
    In der japanischen Fassung ist Vernetzt – Johnny Mnemonic einige Minuten länger, um den Zuschauern mehr Takeshi Kitano zu bieten, wovon der Film eindeutig profitiert.
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Mai 2010
    Nehmen wir an, wir befinden uns im letzten Jahr des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Und nehmen wir weiter an, in der vergangenen Woche seien zwei Dinge passiert: Chinesische Wissenschaftler geben bekannt, ihnen sei die Quantenteleportation über eine Strecke von 15 Kilometern gelungen, und Wissenschaftler aus Maryland verkünden, sie hätten ein künstliches, selbstreplizierendes Genom geschaffen. In dieser Version des 21. Jahrhunderts, die zufälligerweise unsere eigene ist, stieß keine der beiden Meldungen in der Öffentlichkeit auf nennenswertes Interesse.
    Bei der Quantenteleportation wird keine Materie, sondern Information transportiert, ohne dass dafür ein Signal im herkömmlichen Sinne zum Einsatz kommt. Dennoch wurde hier zum ersten Mal das Wort »Teleportation« in der Überschrift eines seriösen Artikels benutzt. Mein »Tatsächlich?«-Modul wurde aktiviert: »Tatsächlich?«, dachte ich. »Teleportation?« Gefolgt von leichtem Staunen.
    Das synthetische Genom – künstliches Leben – löste bei mir dagegen weniger große Verwunderung aus. Schon länger hatte ich das Gefühl, so etwas liege im Bereich des Möglichen. Die Nachricht aktivierte deshalb nur mein »Ach so«-Modul: »Künstliches Leben? Ach so.«
    Allerdings hatten die Wissenschaftler einen Satz von James Joyce in das Genom eingefügt, was zumindest auf mich sehr surreal wirkte. Damit sollte gemessen werden, wie schnell das Genom mutiert. James Joyce’ Prosa wird jetzt also zuForschungszwecken peu à peu von kosmischer Strahlung zersetzt.
    Als ich diese beiden zeitgleichen Meldungen las, musste ich feststellen, dass meine Fantasie, in meiner Jugend an unzähligen Zukunftsvisionen geschult, als Reaktion lediglich eine reißerische Schlagzeile hervorbrachte: D ER H ORROR ! S YNTHETISCHE B AKTERIEN PER Q UANTENTELEPORTATION DURCH DEN L UFTRAUM GESCHICKT .
    Alvin Toffler warnte uns vor dem Zukunftsschock – aber was ist mit der Zukunfts müdigkeit ? In den letzten zehn Jahren beharrten sämtliche Kritiker der Science Fiction, auf deren Meinung ich etwas gebe – alle drei –, darauf, die Zukunft sei vorbei. Das klingt ein wenig albern, wie die These vom Ende der Geschichte. Aber gemeint ist natürlich nur die Zukunft, die zu meiner Zeit ein Kult, fast schon eine Religion war. Menschen in meinem Alter sind das Produkt dieser Kultur des Zukünftigen. Je jünger jemand ist, desto weniger ist er oder sie davon beeinflusst. Die 15-Jährigen heute leben vermutlich in einem endlosen digitalen Jetzt – einem Zustand der Zeitlosigkeit, der durch unsere immer effizienter werdende gemeinschaftliche Gedächtnisprothese ermöglicht wird. Und sie sind sich dessen vermutlich nicht einmal bewusst. Wie die Ethnologie uns lehrt, kann man die eigene Kultur nicht wirklich verstehen.
    Die Zukunft – sei sie nun eine kristallene Stadt auf einem Hügel oder eine postnukleare, radioaktiv verseuchte Einöde – ist passé. Vor uns liegen nur … noch mehr Ereignisse. Manche deuten in Richtung der Kristallstadt, andere eher in Richtung der Einöde. Ein bunter Blumenstrauß Alltäglichkeiten.
    Aber verstehen Sie mich nicht falsch – ich möchte damit keinesfalls eine
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