Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack

Titel: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack
Autoren: William Gibson
Vom Netzwerk:
Songs blenden und achteten dabei kaum auf die rasiermesserscharfen Texte. Becker und Fagen sind für mich immer noch die besten Texter des 20. Jahrhunderts, auch wenn ich damit einige Freunde im Punk-Lager vor den Kopf stoße, die es einfach nicht begreifen wollen. Nichts für ungut. Jeder findet seine Inspiration woanders.
    Etwa zehn Jahre nachdem ich diese Rezension geschrieben hatte, durfte ich Mr Becker und Mr Fagen zu meiner großen Freude persönlich kennenlernen. Nie bin ich von einem meiner Helden weniger enttäuscht worden.
----

Time Asia
April 2002
    In meinem Drehbuch für Vernetzt – Johnny Mnemonic kommt ein stoischer, sehr traditionell eingestellter Yakuza-Boss vor, der in der gefrorenen, von Kakerlaken heimgesuchten Einöde eines dystopischen Newarks in New Jersey strandet. Obwohl ihm die Trauer über den Verlust seiner Tochter sehr zu schaffen macht, zeigt er keinerlei Schwäche, sondern kämpft weiter wie ein lebensmüder römischer Legionär. Derweil wartet seine rechte Hand, ein dekadenter junger Bio-Tech-Dandy mit einem tödlichen Daumenimplantat nur auf eine Gelegenheit, ihn umzubringen.
    Heute frage ich mich, wo ich diese Figur herhatte – diesen harten, nach außen hin makellosen Mann mit seiner verborgenen inneren Wunde. Damals hatte ich noch keinen einzigen Yakuza-Film gesehen, obwohl ich durch popkulturelle Osmose mit dem Genre durchaus vertraut war. Die Wurzeln dieses Genres lagen, so spürte ich, im reichhaltigen Mulch der US-amerikanischen Western und Gangsterfilme. Deshalb war diese Figur quasi ein Re-Import. Oder wie ein Freund von mir gerne sagt: Eine gute Übersetzung hat häufig etwas, das das Original so nicht einfangen kann. Aber wo genau war mein tougher und tragischer Yakuza-Boss hergekommen?
    Irgendwie musste er – als frei schwebende Essenz einer Idee oder Haltung – wohl aus den Filmen von Takeshi Kitano stammen, die ich damals noch nicht kannte. Sein Pate war eindeutig Beat Takeshi, eine Gestalt der japanischen Popkultur mit derart breit gefächerten Talenten und von solch ausgeprägtem Eklektizismus,dass es bei uns kein Äquivalent dafür gibt. Niemand kommt dem auch nur nahe. (»Die Leute wollen in dir lediglich eine Sache sehen«, erzählte Mick Jagger mir einmal über seine Schauspielkarriere.) Takeshi ist Autor, Produzent, Regisseur, Schauspieler, Fernsehstar, Comedian … Aber davon wusste ich nichts, als ich dieses Drehbuch schrieb. Und ebenso wenig, dass Takeshi, dessen Gravitas diese Figur einmal an sich ziehen würde wie ein schwarzes Loch, in dem Ruf steht, ein sehr guter Schauspieler und der berühmteste Mann Japans zu sein. Beides entspricht, wie ich heute weiß, der Wahrheit.
    Spulen wir vor zu einem riesigen, frostigen, halb zerfallenen Fabrikgebäude am Stadtrand von Toronto, wo ein Teil meines dystopischen Newarks aufgebaut wurde – ein hängender Slum unter einer Brücke. Hier, inmitten der Kameras, der Crewmitglieder und der Schrottplatzkulisse sehe ich zu, wie Takeshi sich darauf vorbereitet, meinen Yakuza-Boss zu spielen.
    Ich habe ein wenig Angst. Erst am Vortag habe ich zum ersten Mal gesehen, wie Schauspieler meine Figuren verkörpern. Doch Takeshi erscheint mir wie eine Tulpa , die manifestierte Gestalt eines Gedankens, das vernunftbegabte Plasma jenes interkulturellen Mems, das diese Figur durch mich überhaupt erst hervorgebracht hat. In Wirklichkeit schauspielert er überhaupt nicht. Und wie um diesen Eindruck zu verstärken, ist sein Gefolge aus stoisch dreinblickenden, jungen Handlangern genauso gekleidet wie er. Als wollten sie ihn imitieren, oder vielmehr, als hätten sie es gar nicht nötig, ihn zu imitieren, weil sie längst genauso sind wie er. Sie tragen alle maßgeschneiderte Kaschmirmäntel. Natürlich in Schwarz.
    Es war meine einzige Begegnung mit Takeshi. Monate später hörte ich, dass er bei einem Motorradunfall schwer verletzt wurde und zunächst sogar in Lebensgefahr schwebte. Er überlebte zwar, es war jedoch fraglich, ob er je wieder als Schauspieler würde arbeiten können.
    Die Nachricht stimmte mich sehr traurig.
    An all das musste ich denken, als ich mir letzten Sommer auf dem Filmfestival in Vancouver seinen Film Brother ansah – einer der wenigen Filme, die ich kenne, die das Gefühl einfangen, das einen beim Anblick jener Teile von Los Angeles beschleicht, die sonst nie in Filmen gezeigt werden: Unter der hauchdünnen Schicht der Stadt verbirgt sich eine Wüste. Takeshi weiß seine seit dem Unfall teilweise
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher