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Missgeburt

Missgeburt

Titel: Missgeburt
Autoren: William C. Gordon
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man schließlich anfangen.«
    Samuel nickte und grinste. »Wenn mich nicht alles täuscht, wird die Sache nicht so einfach werden. Vielleicht sollte ich mir doch einen Drink genehmigen.«
    Melba rief über ihre Schulter in Richtung Bar: »Einen Scotch on the rocks für den armen Kerl hier. Natürlich einen Doppelten. Er hat einen anstrengenden Tag hinter sich.« Sie wandte sich wieder Samuel zu und zupfte ihn lachend am Ärmel. »Und sobald du wieder halbwegs ansprechbar bist, nehmen wir uns das Telefonbuch vor.«
    Als Samuels Whisky kam, nahm er einen Schluck und ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken, um den Blick zu genießen, den man aus dem Fenster des Camelot hatte. Auf dem Wasser der Bay waren gerade zwei riesige Frachter zu sehen. Einer war in Richtung Norden, zur Golden Gate Bridge, unterwegs, der andere steuerte unter der Bay Bridge hindurch auf den Naval Ship Yard am Hunter’s Point zu. Der Anblick erinnerte Samuel an seine Beziehung zu Blanche: Wie sollten zwei Menschen, deren Wege in entgegengesetzte Richtungen liefen, jemals zusammenkommen? In der Zwischenzeit hatte Melba das Telefonbuch in ihren Schoß gelegt.
    »Wann kommt Blanche eigentlich wieder zurück?«, fragte Samuel mit gespielter Beiläufigkeit.
    »Wie es scheint, haben sie im Moment reichlich Schnee oben am Lake Tahoe. Deshalb würde es mich wundern, wenn sie vor Monatsende zurückkäme.«
    Samuel nickte bedächtig und nahm einen weiteren Schluck von seinem Scotch.

    »Nicht gerade leicht, an sie ranzukommen, hm?«
    Samuel antwortete nicht. Er konzentrierte sich so lange auf die zwei Frachter, bis er nicht mehr beide gleichzeitig im Blick behalten konnte. »Entschuldigung. Wo waren wir gerade stehengeblieben? «
    Melba lächelte und schlug das Telefonbuch auf. Gemeinsam gingen sie das Branchenverzeichnis durch und fanden drei Lebensmittelgeschäfte im Mission District, die mit M begannen. Samuel notierte sich die Adressen und genehmigte sich einen zweiten Drink, bevor er sich von Melba verabschiedete.
    Am nächsten Tag machte sich Samuel im Mission District an die Arbeit. Die drei Lebensmittelgeschäfte lagen ziemlich weit auseinander, und die ersten zwei waren relativ klein und verkauften ihre Waren nicht sackweise. Kurz nach vierzehn Uhr stand Samuel schließlich vor dem Mi Rancho Market in der Twentieth Street, Ecke Shotwell. Das Gebäude hatte eine sechzig Zentimeter hohe Grundmauer aus Backsteinen. Darüber war die Fassade verputzt und in einem warmen Terrakotta-Ton gestrichen. Über dem Haupteingang, einer Flügeltür aus massivem Glas, stand in roter Schrift auf senffarbenem Grund Mi Rancho Market .
    In dem Laden herrschte reger Betrieb, und die Regale waren voller Konserven mit farbenprächtigen Etiketten und exotischen Lebensmitteln, die vorwiegend aus Mexiko und anderen Ländern Mittel- und Südamerikas stammten. In einem anderen Teil des Ladens entdeckte Samuel die frischesten Produkte, die er jemals außerhalb von Chinatown gesehen hatte. Das führte ihm wieder einmal in aller Deutlichkeit vor Augen, dass den Amerikanern jeder Sinn für wahre Lebensqualität abhanden gekommen war, die für Menschen aus anderen Teilen der Welt offensichtlich eine Selbstverständlichkeit bedeutete – der unvergleichliche Geschmack frischer Lebensmittel. Die Luft war erfüllt vom Duft von frischem Brot, mexikanischem Pan dulce und Tortillas aus
der hauseigenen Bäckerei. Und die große Fleischabteilung konnte es mit jeder italienischen Metzgerei in North Beach aufnehmen. Angesichts der günstigen Fleischpreise überschlug er im Kopf, dass es, wäre der Laden nicht so weit von seiner Wohnung in Chinatown entfernt, wesentlich billiger wäre, hier hochwertiges Fleisch einzukaufen und zu Hause selbst zuzubereiten, als sein Geld für die miserablen Mahlzeiten hinauszuwerfen, die er tagtäglich in irgendwelchen billigen Diners in sich hineinstopfte. Der große Mann hinter der Fleischtheke hatte gewelltes graues Haar und trug eine fleckenlose weiße Schürze. Obwohl er überhaupt nicht wie ein Latino aussah, unterhielt er sich mit den Kunden, die er bediente, lebhaft auf Spanisch.
    »Ich würde mir heute gern ein gutes Stück Fleisch gönnen und kann mich einfach nicht zwischen Rib-Eye- und Rumpsteak entscheiden. Was würden Sie mir empfehlen?«, fragte Samuel auf Englisch, in der Hoffnung, der Mann würde es verstehen.
    »Das Rib-Eye-Steak ist besonders zart. Es wird Ihnen auf der Zunge zergehen«, antwortete der Metzger in perfektem Englisch, aber
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