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Miss Seetons erster Fall

Miss Seetons erster Fall

Titel: Miss Seetons erster Fall
Autoren: Heron Carvic
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sämtliche Kirchenangelegenheiten und ist in der Tat die Macht hinter dem Talar. In ihren Äußerungen ist sie ebenso direkt und praktisch, wie ihr Bruder zerstreut und weltfremd ist.
    Irgendwo auf seinem Lebensweg hatte Arthur Treeves den Glauben verloren; nicht etwa in dem Sinne, daß er ihm plötzlich abhanden gekommen wäre – es war eher eine Erosion, ein langsames Dahinschwinden, ein jahrelanges, allmähliches Verlöschen. Er war sich schmerzlich bewußt, daß ihm der moralische Mut fehlte, der Kirche den Rücken zu kehren und etwas anderes zu tun. Aber es ist eben schwer, spät im Leben und ohne Vermögen den Beruf zu wechseln, nur weil man sich nicht mehr berufen fühlt. Seine Pflichten erfüllte er gewissenhaft, aber zu Besuchen mußte er sich mühsam aufraffen, denn er war von der Angst verfolgt, eines seiner Pfarrkinder könnte – in dem Glauben, ihm damit einen Gefallen zu tun – plötzlich über Theologie diskutieren wollen. Es war, als hätte sich eine grüne Wiese unter seinen Füßen in Morast verwandelt, in dem er eines Tages versinken mußte. Die Dogmen und Gebote, in denen er als Zwanzigjähriger so erfreuliche Lösungen für alle Probleme gesehen hatte, waren ihm inzwischen selbst problematisch geworden. Im Verhalten der Menschen sah er so viele Aspekte und hatte für sie alle so viel Verständnis, daß sich bei keinem Problem eindeutige Antworten fanden – höchstens bei absichtlicher Unfreundlichkeit.
    »Dein Kaffee, Arthur.« Miss Treeves legte die Zeitung hin und reichte ihm die Tasse. Die Zeitung gehörte ihnen nicht – im ganzen Dorf war es zu einem so lebhaften Zeitungsaustausch gekommen – Lehrerin jagt Messerstecher in die Flucht gegen Heldin im Mordfall Covent Garden, Unerschrockene Schirmlady gegen Malerin schlägt Mörder nieder –, daß niemand mehr wußte, wessen Zeitung er vor sich hatte. »Findest du nicht, daß es eine nette Geste wäre, dieser Miss Seeton vor dem Tee einen Besuch zu machen?«
    Reverend Arthur zuckte zusammen; Kaffee schwappte in die Untertasse. »So bald schon? Halte das für falsch.« Er suchte nach einem Vorwand, um es auf die lange Bank zu schieben. »Nächste Woche, vielleicht, wenn sie sich eingelebt hat.«
    »Aber sie ist nur drei Wochen hier, glaube ich«, ermahnte ihn seine Schwester. »Mrs. Bannet war immerhin eine gute alte Bekannte, und Miss Seeton ist ihre Patentochter.«
    »Ah ja. Ja, natürlich.« Er stand auf, ging zum Fenster und blickte hinaus: Der Rasen könnte es vertragen, wieder mal gemäht zu werden. »Ich muß ihr kondolieren.« Er trat wieder an den Tisch und rührte seinen Kaffee um. »Wann kommt sie denn?«
    »Sie ist schon da. Die Bloomers haben mir gesagt, sie käme zum Lunch.«
    »Zum Lunch? Zu uns?« Er ließ den Löffel fallen und sah sich erschrocken im Zimmer um. »Ach, du meine Güte. Ich hatte keine Ahnung.« Er ging auf die Tür zu. »Ich muß.«
    »Setz dich, Arthur, trink deinen Kaffee und reg dich nicht auf. Wir sind mit dem Lunch doch schon fertig. Nicht zu uns zum Lunch – zum Lunch drüben, in ihrem eigenen Haus.« Nach dieser geduldigen Erklärung fuhr sie fort: »Mrs. Bloomer wollte drüben bleiben und alles für sie vorbereiten. Der Zug war pünktlich, ich habe das Auto kommen sehen«.
    »Sie hat einen Wagen?« Die Gedanken des Pfarrers schweiften in die Zukunft: Das Fest für die Alten – sie könnte ein paar alte Leutchen hinbringen; der Ausflug an die See; zahllose Möglichkeiten. »Fährt sie selbst?« fragte er interessiert.
    Miss Treeves seufzte. »Ich weiß es nicht, aber ich glaube, kaum. Du hörst ja gar nicht zu. Crabbe von der Tankstelle hat sie am Bahnhof abgeholt und hergefahren, und Bloomer hat ihr das Gepäck reingebracht.«
    »Bloomer?« Das freute ihn; einmal wenigstens war jemand von seiner Herde zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen, um das Rechte zu tun. »Sehr schön. Versteht eine Menge von Hühnern. Heute nachmittag gehe ich vorbei und sage ihr, wie leid es uns tut.«
    »Nein, Arthur, nein.« Miss Treeves sprach wie zu einem Kind. »Wie froh wir sind. Wie froh, sie willkommen zu heißen.«
    »Ach so. Selbstverständlich.« Er trank aus und stand hastig auf. »Selbstverständlich. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich das Richtige sage. Aber ein Wort über ihren Verlust ist auch angebracht. Schließlich haben wir ihre Mutter gut gekannt. Ich habe sie beerdigt.«
    »Oh, paß doch auf, wenigstens einmal. Ihre Patentante, Arthur. Wie oft soll ich dir das noch erzählen?«
    »Jaja,
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