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Milchfieber

Milchfieber

Titel: Milchfieber
Autoren: Thomas B. Morgenstern
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Kollegin, der Biologe war aber, so fand sie, doch sehr ansprechend. Sein voller Rauschebart, der sicher zwanzig Jahre keine ordnende Schere mehr gesehen hatte, ließ sein Gesicht alterslos erscheinen. Er war, wie sie meinte, stattlich, eine euphemistische Umschreibung seiner Kugelplautze. Er schnaufte etwas, wenn er vom fahrenden Zug sprang und schnaufte noch mehr, wenn er nach der Weichenstellung den kurzzeitig führerlos dahintuckernden Zug wieder enterte.
    Nach der halben Strecke, die in mehreren Schleifen durch das menschenleere Moor führte, an einem auf Stelzen stehenden Seminarhaus und einem Aussichtsturm vorbei, von dem man nicht nur über das abgetorfte und dann wieder vernässte Moor, sondern sogar weit entfernt stehende Windkraftanlagen sehen konnte, hielt der Zug an einem schattigen Platz. Ein paar roh gezimmerte Bänke standen unter großen Birken.
    „Hier“, erklärte der Biologe, „ist das Moor nicht abgetorft worden. Bitte bleiben sie auf dem befestigten Platz. Dort“, er zeigte auf eine fast unnatürlich grüne Fläche, „wird es sehr gefährlich. Das ist eine so genannte Schlenke, bewachsen mit einem Schwingrasen. Nach dem Picknick zeige ich Ihnen mehr. Jetzt aber erst einmal: Guten Appetit.“
    Frau Sebilewski holte ihre Provianttasche heraus, biss in ein Käsebrot und schlug das kleine Buch über die Moorbläulinge auf, dass sie sich vor der Reise gekauft hatte. Sie kannte zwar den Lebenszyklus der Tiere, hoffte aber bei jeder Veröffentlichung auf neue Erkenntnisse.
    „Im Raupenstadium“ las sie interessiert , „bringen sie ausgerechnet ihre Feinde, die Ameisen, dazu, sie zu betreuen, das heißt sie zu ernähren, gegen andere Feinde zu beschützen und ihnen im wetterfesten Ameisennest Unterschlupf zu gewähren. Der Lebenszyklus und die ökologischen Ansprüche sind zwar bei den vier Arten nicht in allen Einzelheiten gleich, folgen aber mehr oder weniger dem folgenden Muster.“
    Sie hob den Kopf und suchte die Umgebung nach einem Ameisenhaufen ab. Nur hier, so wusste sie, kam auch ihr kleiner Liebling vor.
    „Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit“, sagte der Biologe und sie ließ sich von seiner sonoren Stimme gerne aus ihren Überlegungen reißen. „In alten Zeiten war es sehr gefährlich, sich ohne Führung in ein Moor zu wagen. Unsere Vorfahren hatten schon vor tausend Jahren Bohlenwege angelegt, auf denen man einigermaßen gefahrlos laufen konnte. Aber wehe, man machte einen Fehltritt. Das Moor verschluckt einen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Gefährliche Stellen gibt es auch heute noch.“
    Der Mann nahm eine vier Meter lange Stange in die Hand und trat mit seinem linken Fuß prüfend auf den Schwingrasen. Sofort begann das Grün sich zu bewegen. „Unter dieser harmlos scheinenden Rasendecke, auf die ich nicht treten darf, da sie nicht tragfähig ist, ist ein Wasserloch versteckt, das sicher vier Meter tief ist.“
    Er drückte die lange Stange durch die Grasdecke und sie rauschte ohne Widerstand mit ihrer ganzen Länge ins Wasser. Sie wurde regelrecht verschluckt.
    „Vor ein paar Jahren“, erzählte er gut gelaunt weiter, er hatte die Blicke von Frau Sebilewski bemerkt und fühlte sich geschmeichelt, „ist auf einem Bauernhof in der Nähe ein Jungbulle ausgebrochen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Was er dann auch tatsächlich war, man hat nach einem Jahr zufällig seine Knochen in dieser Schlenke gefunden. Das Wasser ist, wie üblicherweise im Moor, sauer.“
    Weiter kam er nicht. Erst dachte er, Frau Sebilewski sei hysterisch, als er ihren schrillen Schreckensschrei hörte. Er fuhr herum, aber er konnte den Grund ihres Schreckens nicht sehen. Es waren nur Sekundenbruchteile gewesen, in denen man hatte erkennen können, was da aus dem Wasser ragte. Sein Blick aber kam zu spät, um die menschliche Hand zu sehen, die wie um Hilfe bittend, den Rasen durchstoßen zu haben schien. Frau Sebilewski schrie ohne Unterlass und stotterte „Da! Da!“, die Hand war jedoch wieder verschwunden. Frau Sebilewski schluchzte und schrie und weinte und niemand konnte verstehen, was sie zwischen ihren Anfällen nach Luft schnappend zu sagen versuchte. Schließlich kippte sie um. Das Interesse des Biologen an ihr war schlagartig verschwunden.
    Hysterische Kuh, dachte er verärgert, als er den Notarzt alarmierte.
    *****
    Horst Winkler war nicht zu Hause. Allmers erkannte ­dessen Bruder Klaus in der Ferne, er schien an einem Zaun zu arbeiten. Er umrundete den Hof und sah erstaunt, dass der Hof
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