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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
Autoren: dfg
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geantwortet, hatte allerdings Pech, aber können wir beide uns beklagen? Kein Kannibale hat Sie gegessen, kein Ignorant mich totgeschlagen. Hat es nicht etwas Beschämendes, wie leicht uns alles fiel? Und was jetzt geschieht, ist nur, was einmal geschehen mußte: Unser Erfinder hat genug von uns. Gauß legte die Pfeife weg, zog die Samtmütze über den Hinterkopf, steckte das russische Wörterbuch und den kleinen Puschkin-Band ein und machte sich auf, vor dem Abendessen spazierenzugehen. Sein Rücken schmerzte, sein Bauch ebenso, und in seinen Ohren rauschte es. Dennoch war seine Gesundheit gar nicht übel. Andere waren gestorben, er war noch hier. Immer noch konnte er denken, zwar nichts allzu Kompliziertes mehr, aber für das Nötigste reichte es. Über ihm schwankten die Baumwipfel, in der Ferne ragte die Kuppel seiner Sternwarte auf, später in der Nacht würde er ans Fernrohr gehen und, mehr aus Gewohnheit, als um noch etwas zu finden, das Band der Milchstraße in die Richtung der fernen Spiralnebel verfolgen. Er dachte an Humboldt. Gern hätte er ihm eine gute Rückkehr gewünscht, aber am Ende kam man nie gut zurück, sondern jedesmal ein wenig schwächer, und zuletzt gar nicht mehr. Vielleicht gab es ihn ja doch, den Hchtlöschenden Äther. Aber natürlich gebe es ihn, dachte Humboldt in seiner Kutsche, er habe ihn ja dabei, in einem der Fuhrwerke, nur erinnere er sich nicht mehr, wo, es seien Hunderte Kisten, und er habe den Überblick verloren. Plötzlich wandte er sich Ehrenberg zu. Tatsachen! Aha, sagte Ehrenberg. Tatsachen, wiederholte Humboldt, die verblieben noch, er werde sie alle aufschreiben, ein ungeheures Werk voller Tatsachen, jede Tatsache der Welt, enthalten in einem einzigen Buch, alle Tatsachen und nur sie, der ganze Kosmos noch einmal, allerdings entkleidet von Irrtum, Phantasie, Traum und Nebel; Fakten und Zahlen, sagte er mit unsicherer Stimme, die könnten einen vielleicht retten. Bedenke er zum Beispiel, daß sie dreiundzwanzig Wochen unterwegs gewesen seien, vierzehntausendfünfhundert Werst zurückgelegt und sechshundertachtundfünfzig Poststationen aufgesucht hätten und, er zögerte, zwölftausendzweihundertvierundzwanzig Pferde benützt, so ordne sich die Wirrnis zur Begreiflichkeit, und man fasse Mut. Aber während die ersten Vororte Berlins vorbeiflogen und Humboldt sich vorstellte, wie Gauß eben jetzt durch sein Teleskop auf Himmelskörper sah, deren Bahnen er in einfache Formeln fassen konnte, hätte er auf einmal nicht mehr sagen können, wer von ihnen weit herumgekommen war und wer immer zu Hause geblieben.

Der Baum 

    Als Eugen die Küste verschwinden sah, zündete er sich die erste Pfeife seines Lebens an. Gut schmeckte sie nicht, aber wahrscheinlich konnte man sich daran gewöhnen. Er trug jetzt einen Bart und kam sich zum erstenmal nicht wie ein Kind vor. Der Morgen nach seiner Verhaftung schien lange zurückzuliegen. Der schnurrbärtige Gendarmeriekommandant war in seine Zelle gestürmt und hatte ihm zwei Ohrfeigen von solcher Wucht verpaßt, daß sie ihm den Kiefer ausgerenkt hatten. Wenig später hatte das Verhör begonnen: Ein merkwürdig höflicher Mann im Gehrock fragte ihn traurig, warum er das getan habe. Mit dem Widerstand bei der Inhaftierung habe er sich in Teufels Küche gebracht, sei denn das nötig gewesen? Aber er habe sich nicht gewehrt, rief Eugen. Der Geheimpolizist fragte, ob er Preußens Polizei der Lüge bezichtigen wolle. Eugen bat ihn, Kontakt mit seinem Vater aufzuneh men. Seufzend fragte der Geheimpolizist, ob er wirklich glaube, das habe man nicht längst getan. Er beugte sich vor, faßte Eugen vorsichtig an beiden Ohren und schlug seinen Kopf mit aller Kraft auf die Tischplatte. Als Eugen zu sich kam, lag er in einem sauber bezogenen Bett am Rand eines Krankenhausschlafsaals mit vergitterten Fenstern. Dies sei keiner der schlimmen Orte, sagte eine ältliche Schwester, hierher würden nur Adelige verlegt oder Leute, für die sich jemand verwendet habe, er solle froh sein. Gegen Abend tauchte von neuem der höfliche Geheimpolizist auf. Alles sei geregelt, Eugen werde das Land verlassen. Man rege eine Reise nach Übersee an. Er wisse nicht recht, sagte Eugen, das sei schon sehr weit. Eigentlich sei das kein Vorschlag, antwortete der Geheimpolizist, die Idee stehe nicht zur Diskussion, und wüßte Eugen, welchem Schicksal er entgehe, er würde weinen vor Glück. Am Abend kam sein Vater. Er setzte sich auf den Bettrand und fragte, wie er
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