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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
Autoren: dfg
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das seiner Mutter habe antun können. 
    Er habe das alles nicht vorgehabt, sagte Eugen weinend, er habe von nichts gewußt, er wolle nicht weg. Geschehen sei geschehen, sagte sein Vater, klopfte ihm geistesabwesend auf die Schulter und schob etwas Geld unter sein Kopfkissen. Der Baron habe alles geregelt, er sei ein feiner Mann, wenn auch etwas verrückt. Eugen fragte, wovon er leben solle. Sein Vater zuckte die Schultern. Ob er schon einmal über die Berechnung von Feldern nachgedacht habe? Feldern, wieso? Kugelfunktionen, sagte sein Vater nachdenklich, so müsse es zu machen sein. Er fuhr zusammen und sah Eugen an, als erwache er aus einem Traum. Wie auch immer, er werde es schon schaffen! Dann zog er Eugen so fest an sich, daß seine Schulter gegen dessen Kiefer prallte; für ein paar Sekunden war Eugen betäubt vor Schmerz. Als er wieder klar denken konnte, war sein Vater gegangen. Erst jetzt begriff er, daß er ihn nie mehr sehen würde. Drei Tage später erreichte er den Hafen. Beim Warten auf die Fähre nach England kam er mit drei Handelsreisenden ins Gespräch, gutmütigen Leuten, nicht sehr intelligent, die für neugegründete Bankhäuser arbeiteten und ihn zu einem Kartenspiel aufforderten. Er gewann. Zunächst wenig, dann immer mehr, schließlich so viel, daß sie ihn für einen Betrüger hielten und er schnell gehen mußte. Dabei hatte er nichts anderes getan, als sich die Karten nach Giordano Brunos Methode zu merken, die sein Vater ihm vor Jahren beigebracht hatte: Man mußte jede Karte im Kopf in eine Menschen-oder Tierfigur verwandeln, je alberner desto besser, so daß sie sich zu einer Geschichte zusammenfügten. Wenn man es geübt hatte, konnte man ein Spiel mit zweiunddreißig Blatt im Gedächtnis behalten. Damals war ihm das nie gelungen, und sein Vater hatte schimpfend aufgegeben. Jetzt aber ging es ohne Schwierigkeiten. In einer anderen Gastwirtschaft trank er zuviel. 
    Die Luft um ihn schien zu flimmern, und er spürte sanfte Müdigkeit in allen Gliedern. Der Wunsch nach Schlaf war so stark, daß er fast die schöne junge Frau übersehen hätte, die plötzlich neben ihm saß. So jung, das erkannte er dann aus der Nähe, war sie zwar gar nicht, und auch nicht ganz so hübsch, doch als er log und sagte, er habe kein Geld, fragte sie ihn beleidigt, ob er sie für so eine halte, und schon um ihr zu zeigen, daß er es nicht tat, nahm er sie auf sein Herbergszimmer mit. Auf dem Weg dorthin dachte er darüber nach, ob es sich gehörte, ihr zu sagen, daß sie seine erste Frau war und er kaum wußte, was er zu tun hatte. Doch dann war es sehr einfach, und als er im Halbdunkel ihre Hände auf seinen Wangen spürte, war er so glücklich und müde, daß er fast eingeschlafen wäre, hätte sie es nicht verstanden, ihn wachzuhalten, und es war gar nicht mehr wichtig, wie jung sie war oder wie sie aussah, und als ihm am nächsten Morgen klar wurde, daß sie seinen ganzen Gewinn mitgenommen hatte, brachte er es nicht fertig, sich zu ärgern. Wie leicht alles wurde, wenn man aufbrach. Dann war er nach England gekommen: fremde Menschen, eine Sprache aus seltsam klingenden Lauten, fremde Ortsschilder und merkwürdiges Essen. Angeblich lebten Millionen in London, aber er konnte es sich nicht vorstellen; eine Million Menschen, das ergab keinen Sinn. In seinem Gasthof erreichte ihn ein Brief Humboldts, der ihm empfahl, eines der neuartigen Dampfschiffe zu nehmen. Er schloß Ratschläge über den Umgang mit wilden Menschen an: Man müsse freundlich und interessiert wirken und dürfe weder seine Überlegenheit leugnen, noch es unterlassen, Belehrungen zu äußern, das Wohlgefallen an der Unwissenheit anderer sei eine Form der Herablassung. Eugen mußte lachen. Als ob er sich unter Wilden ansiedeln würde! Von seinem Vater kein Wort. Nachts konnte er vor Heimweh und Einsamkeit nicht schlafen. 
    Er nahm das erste Dampfschiff, auf dem eine Passage frei war. Es gab nur wenige Reisende an Bord, Dampfer fuhren erst seit kutzem über den Ozean, und den meisten war es noch zu neu. Der Himmel war niedrig und bewölkt, Eugens Pfeife ging aus, er wollte sie wieder anzünden, aber der Wind war zu stark. Der Kapitän, der erfahren hatte, daß Eugen etwas von Mathematik verstand, lud ihn in die Steuerkabine ein. Ob er sich auch für Navigation interessiere? Nicht im geringsten, antwortete Eugen. Früher, sagte der Kapitän, wäre so starke Bewölkung ein Problem gewesen, aber heute navigiere man ohne Sterne, man habe
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