Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
Autoren: dfg
Vom Netzwerk:
endlich, so weit dehnte, daß jede mögliche Distanz nur ein Teil von ihr war. Für ein paar Sekunden, im Zwischenreich von Wachen und Schlaf, hatte er das Gefühl, daß diese Gerade etwas mit seinem Leben zu tun hatte und alles hell und deutlich wäre, wenn er nur begriffe, was. Die Antwort schien nahe. Er wollte an Gauß schreiben. Doch dann schlief er ein.
Gauß hatte errechnet, daß Humboldt noch drei bis fünf Jahre zu leben hatte. Seit kurzem beschäftigte er sich wieder mit Sterbestatistik. Es war ein Auftrag der staatlichen Assekuranzkasse, gut bezahlt, zudem mathematisch nicht uninteressant. Gerade hatte er die Lebenserwartungen alter Bekannter überschlagen. Wenn er eine Stunde lang die an der Sternwarte vorbeigehenden Menschen zählte, konnte er abschätzen, wie viele davon in einem Jahr, in drei Jahren, in zehn Jahren unter der Erde sein würden. Das, sagte er, sollten die Astrologen nachmachen!
Man dürfe, antwortete Weber, die Horoskope nicht unterschätzen, eine vollkommene Wissenschaft werde auch sie einzusetzen verstehen, so wie man jetzt beginne, die galvanische Kraft zu nutzen. Außerdem ändere die Glockenkurve der Wahrscheinlichkeit nichts an der simplen Wahrheit, daß keiner ahne, wann er sterben werde; ein Würfel falle immer zum erstenmal.
Gauß bat ihn, keine Torheiten zu reden. Seine Frau Minna, denn sie sei kränklich, werde vor ihm sterben, dann seine Mutter, dann er selbst. Das sage die Statistik, so werde es eintreten. Er starrte noch eine Weile durch das Fernrohr auf die Spiegelskala über dem Empfänger, aber die Nadel schlug nicht aus, Weber antwortete nicht mehr. Wahrscheinlich waren die Impulse wieder unterwegs verlorengegangen.
So plauderten sie häufig. Weber saß drüben in der Stadtmitte im physikalischen Kabinett vor einer zweiten Spule mit einer ebensolchen Nadel. Mit Induktionsgeräten sandten sie zu verabredeten Zeiten Signale hin und her. Etwas ähnliches hatte Gauß vor Jahren mit Eugen und den Heliotropen versucht, aber der Junge hatte sich das diadische Alphabet nicht merken können. Weber hielt das Ganze für eine einzigartige Erfindung, die der Professor nur bekanntmachen müsse, um reich und berühmt zu werden. Er sei schon berühmt, antwortete Gauß dann, und eigentlich auch ziemlich reich. Die Idee sei so naheliegend, daß er sie gern den Dummköpfen überlasse.
Da von Weber nichts mehr kam, stand Gauß auf, schob seine Samtkappe in den Nacken und begab sich auf einen Spaziergang. Der Himmel war überzogen von durchscheinendem Gewölk, es sah nach Regen aus.
Wie viele Stunden hatte er vor dieser Empfangsanlage auf ein Zeichen von ihr gewartet? Wenn Johanna dort draußen war, genauso wie Weber, nur weiter entfernt und anderswo, warum nutzte sie dann nicht die Gelegenheit? Wenn Tote sich von Mädchen im Nachthemd heran-und zurückholen ließen, weshalb verschmähten sie diese erstklassige Vorrichtung? Gauß blinzelte: Etwas mit seinen Augen stimmte nicht, das Firmament schien ihm von Rissen zerfurcht. Er spürte die ersten Regentropfen. Vielleicht sprachen die Toten ja nicht mehr, weil sie in einer stärkeren Wirklichkeit waren, weil ihnen diese hier schon wie ein Traum und eine Halbheit, wie ein längst gelöstes Rätsel erschien, auf dessen Verstrickungen sie sich noch einmal würden einlassen müssen, wollten sie sich darin bewegen und äußern. Manche versuchten es. Die Klügeren verzichteten. Er setzte sich auf einen Stein, das Regenwasser rann ihm über den Kopf und die Schultern. Der Tod würde kommen als eine Erkenntnis von Unwirklichkeit. Dann würde er begreifen, was Raum und Zeit waren, was die Natur einer Linie, was das Wesen der Zahl. Vielleicht auch, warum er sich immer wieder wie eine nicht ganz gelungene Erfindung vorkam, wie die Kopie eines ungleich wirklicheren Menschen, von einem schwachen Erfinder in ein seltsam zweitklassiges Universum gestellt. Er blickte um sich. Etwas Blinkendes zog über den Himmel, auf gerader Linie, sehr hoch oben. Die Straße vor ihm kam ihm breiter vor, die Stadtmauer war nicht mehr zu sehen, und zwischen den Häusern erhoben sich spiegelnde Türme aus Glas. Metallene Kapseln schoben sich in Ameisenkolonnen die Straßen entlang, ein tiefes Brummen erfüllte die Luft, hing unter dem Himmel, schien sogar von der schwach vibrierenden Erde aufzusteigen. Der Wind schmeckte säuerlich. Es roch verbrannt. Da war auch etwas Unsichtbares, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte: ein elektrisches Schwingen, zu erkennen nur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher