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Messertänzerin

Messertänzerin

Titel: Messertänzerin
Autoren: S Rauchhaus
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flatterte.
    »Eines Tages würde ich gerne die Welt sehen. Alles, was hinter diesen Mauern liegt. Und hinter der Stadtmauer.«
    Jolissa folgte ihrem Blick. »Die Stadt kann ich dir einesTages vielleicht zeigen. Aber hinter der Stadtmauer gibt es nur noch die Felder, die von Bauern bewirtschaftet werden, und hinter den Feldern beginnt das Wilde Land. Niemand wagt sich dort hinaus. Es ist zu gefährlich und die Stadtwache steht an allen Toren.«
    Divya versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie enttäuscht sie war. »Nun, vielleicht werde ich ja die erste Reisende im Wilden Land sein und euch allen davon berichten?«
    Jolissa lachte auf und hielt ihre Worte offenbar für einen Scherz.
    »Du bist verrückt! Aber nun sag schon: Was ist dein Traum?«
    »Das finde ich noch heraus«, sagte Divya nachdenklich. »Jemand hat mir einmal gesagt, dass ich lernen muss, meinen Weg zu finden.«
    Jolissa legte eine Hand auf Divyas Schulter. »Vielleicht haben wir ja wirklich den gleichen Weg. Was meinst du? Ob ich dich mitnehmen kann, wenn ich einmal heirate? Wäre das nicht eine Idee? Dann könnten wir immer Freundinnen sein.«
    Das Wort ging ihr so einfach von den Lippen! Freundinnen! Divya lächelte zurück und hoffte sehr, dass Jolissa recht hatte. Aber der Wind in ihren Ohren flüsterte etwas anderes.

Blut
    Seit ihrer Begegnung mit dem Licht war das Lernen für Divya eine Art Schlüssel zur Zukunft und sie empfand es als völlig selbstverständlich. Es machte ihr sogar Spaß. Während sie die stumpfsinnigen Tätigkeiten einer Dienerin ausführte, wiederholte sie im Kopf die Gedichte, die die Mädchen auswendig können mussten, oder erinnerte sich an all die komplizierten Regeln, die es bei der Begrüßung und Anrede verschiedener Kastenmitglieder gab.
    Im ersten Sommer nach ihrem zwölften Geburtstag beherrschte sie bereits die Gesten, die eine Tana bei Tisch kennen sollte. Wie sie ihren Löffel zum Mund führte, mit welcher Hand sie ihrem Mann und mit welcher Hand sie einem Gast Speisen anreichen durfte.
    Der darauffolgende Winter brachte ungewöhnlich kalte Luft mit sich, sodass es ihr immer schwerer fiel, lange Zeit aufmerksam auf der Agida in der Hocke zu verbringen, deshalb nutzte sie die unbeobachteten Momente immer öfter für ihre Tanzübungen. Und wenn ihre Hände vom Waschen ganz durchgefroren waren, wärmte sie sie auf, indem sie die Bewegungen mit den »Halas« nachahmte, den hölzernen Fingeraufsätzen, die einen rhythmischen Takt für den Tanz vorgaben. So kam es manchmal, dass sie einer Melodie folgte, die außer ihr niemand hören konnte – quer durch die Wäscherei. Bis sie eines Tages dabei von einer anderen Dienerin beobachtet wurde und daher beschloss, dass sie bald einen anderen Ort zum Tanzen finden musste.
    Als der nächste Sommer endlich wieder dafür sorgte, dass ein Teil des Lebens draußen stattfinden konnte, verbrachte Divya noch mehr Zeit als früher auf der Agida neben den Unterrichtsräumen. Sie lauschte sogar mit rotem Kopf Maitas Ausführungen über die Geheimnisse der Frauen und kannte sich nun auch darin aus – obwohl sie nicht alles glauben konnte, was Männer und Frauen angeblich miteinander tun sollten.
    Am meisten Spaß machte Divya aber noch immer der Tanz, und ihre Füße begannen jedes Mal zu zucken, wenn sie Musik hörte oder sah, wie elegant die Schülerinnen sich bewegten und wie gezielt sie dadurch einen bestimmten Schwung ihrer Vessélas herbeiführten. Die Kunst bestand darin, keinen Blick auf die nackte Haut darunter zu erlauben und gleichzeitig die Fantasie des Zuschauers so weit zu reizen, dass er sich diese Haut vorstellen konnte. Die Lehrerin für Tanz, Rudja, drückte es anders aus: »Tanz ist Verführung – hinter der Maske der Bescheidenheit.«
     
    Inzwischen war Divya vierzehn Jahre alt und sie hatte ihren geheimen Ort gefunden. Heute war es wieder so weit: Sie hatte Nachtdienst in der Wäscherei und durfte am Morgen ein paar Stunden länger schlafen. Die Zeit in der Dunkelheit aber gehörte ihr allein. Wenn sie ihre Arbeit getan hatte, würde sie über die Agida schleichen und tanzen!
    In dieser Nacht wusch und schrubbte und wrang sie etliche Wäschestücke und hängte sie im Keller unter der Wäscherei auf. Vollkommen allein, bis auf das schimmernde Licht , das müde in der Ecke saß, in der sich die Zuckerwasserschale befand. In diesem Raum gab es zwar keine Fenster, aber Lüftungsschlitze zur Straße hin, und Divya konntehören, wie das Leben draußen langsam
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