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Merlin und der Zauberspiegel

Merlin und der Zauberspiegel

Titel: Merlin und der Zauberspiegel
Autoren: Thomas A. Barron
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ich.
    »Dann musst du mir folgen«, verlangte das Gesicht. »Nur der Pfad der Wahrheit wird dich nach Hause bringen. Eil dich, solange
     du noch Zeit hast!«
    »Nein!«, protestierte das Gesicht, das zuerst geredet hatte. »Du bist ein Zauberer und eines Tages wirst du ein großer Magier
     sein. Das weißt du jetzt! Komm hier entlang.«
    »Aber im Grunde«, kam die Entgegnung, »bist du immer noch ein Stümper. Komm jetzt. Folge der tieferen Wahrheit! Lass dich
     nicht von deiner Eitelkeit, deinen Wünschen zum Narren halten.«
    Andere Gesichter riefen mich an – alle mit meiner Stimme. Eins wandte sich an mich als Heiler gerissener Sehnen und zerschnittenen
     Gewebes; ein anderes beschwor mich als Forscher, als einsamen Abenteurer, der vor langer Zeit ein Floß aus Treibholz gebaut
     und die unbekannte Route nach Fincayra gefunden hatte; wieder ein anderes begrüßte mich als Helden, als Retter derer in Not.
     Der Chor schwoll an und dröhnte in meinen Ohren. Ich war für verschiedene Gesichter ein Säer von Samen; ein Beherrscher vieler
     Sprachen; ein leidenschaftlicher junger Mann, der sich danach sehnte, endlose Tage mit Hallia zu verbringen; ein Scharlatan,
     der jede Gelegenheit nutzte zu überraschen; und vieles andere mehr.
    Mit der Lautstärke der Stimmen wuchs meine Verwirrung – und meine Gewissheit, dass jede Chance, Hallia zu retten, rasch schwand.
     Wenn nur einer dieser Tunnel mich zurückbringen konnte, musste ich irgendwie entscheiden, welchem ich folgen sollte. Und ich
     musste es schnell entscheiden.
    Zu meinem Entsetzen fingen die Tunnel an sich zu bewegen – in den Nebeln höher oder tiefer zu gleiten, zur Seite zu rutschen
     oder sprunghaft zu tanzen. Rasch wurde ihre Bewegung schneller. Zugleich klangen ihr Flehen und Schmeicheln, ihre Befehle
     verzweifelter. Ich konnte kaum verfolgen, welches Gesicht was sagte, geschweige denn das Richtige wählen.
    Inmitten der lauter werdenden Missklänge hörte ich eine andere Stimme, die tief aus meinem Gedächtnis kam: die Stimme meines
     älteren Ichs.
Nur du kannst den Weg finden,
hatte er gesagt.
Nur du.
Aber welchen Weg musste ich finden? Welchen Weg – und welches Ich?
    Die Gesichter tanzten wilder. Ihre Bewegungen und Rufe wurden undeutlich, gingen ineinander über.
Du könntest,
mahnte die Stimme des alten Magiers,
einfach anfangen zu sein
. Aber was sein? Meine Gedanken überschlugen sich. Was war es, das er dem jungen Artus vor allem vermitteln wollte?
Finde dein wahres Ich,
hatte er gesagt. Ja – und damit
dein wahres Bild. Dann wirst du dir das größere Wohl erschließen, die höhere Macht, die Leben in alle Dinge atmet.
    Mein wahres Ich. Mein wahres Bild. Aber welches von all den Bildern, die mich umschwirrten, war das wahre? Vielleicht waren
     einige oder alle zum Teil wahr – aber welches war die richtige Wahl? Das richtige Spiegelbild?
    Die Tunnel und die Gesichter darin verschwanden, zogen sich zurück in die Nebelschwaden. Obwohl die Schreie schriller wurden,
     verklangen sie langsam. Manche konnte ich jetzt kaum mehr vernehmen, andere in den zunehmenden Dämpfen kaum mehr sehen. Es
     dauerte höchstens ein paar Sekunden, dann waren alle verschwunden.
    Das richtige Spiegelbild.
Was war ein Spiegelbild überhaupt? Ein Bild, eine Form, die auf meine Sehkraft zurückgeworfen wurde. Aber war ich das da draußen,
     dieses Gesicht im Spiegel – oder war das etwas anderes als ich? Spiegel zeigten schließlich nicht die tatsächliche Gestalt.
     Das wahre Ich. Genau wie mein Schatten, geschrumpft und ungehorsam, nicht das wahre Ich war, so konnte auch kein gespiegeltes
     Bild mein wahres Ich sein.
    Und doch . . . mein Schatten war etwas anderes, zumindest in einer Hinsicht. Was auch immer geschah, er war an mich gebunden,
     genau wie der Schatten meines älterenIchs an ihn gebunden war. Anders als ein Gesicht in einem Spiegel, das verschwand, wenn der Spiegel weggenommen wurde, war
     der Schatten ein Teil meines Ichs, ein lebenslanger Gefährte. Ja, so ungern ich es zugab, mein Schatten gehörte zu mir und
     ich zu ihm.
    Mit einem Mal verstand ich. Der Spiegel, den ich finden musste, das Gesicht, das ich sehen musste, war nicht unter den Spiegelbildern,
     die mich jetzt umkreisten. Es war überhaupt nicht außerhalb von mir, sondern irgendwo in mir – an der tiefsten, dunkelsten
     Stelle meines Seins. In einem Winkel, den das Tageslicht nie erreichte, wo Körper und Schatten ineinander übergingen.
    Die Gesichter und ihre Stimmen waren
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