Mercy, Band 2: Erweckt
übergeben.
„Eine wie du würde mich doch gar nicht anschauen, wenn ich nicht bezahle, was?“, sagt Ranald und lässt den Pistolenlauf an Justines nacktem Arm heruntergleiten.
Justine wendet ihr zerschundenes Gesicht ab, ihr Körper biegt sich in heftiger Abwehr von ihm weg. Ranald reißt die Waffe hoch, als wollte er sie damit schlagen, und Justine zuckt zusammen. Aber er lacht und senkt den Arm wieder.
„Aber wenn schon“, murmelt er. „Für mich gab’s sowieso immer nur eine , und ich hab’s satt, um sie herumzuscharwenzeln und mich von ihr hinhalten zu lassen. Ich lasse mich nicht mehr wie Dreck behandeln, schon gar nicht von der da.“
Er wirft mir einen flammenden Blick zu, und erst jetzt begreife ich, von wem er spricht.
„Du meinst doch nicht etwa mich!“, entfährt es mir.
Ich rufe mir Lelas Tagebuch in Erinnerung. Dort war immer nur von Andy die Rede, Ranald kam nie vor. Er hat ihr nichts bedeutet. Und ich habe auch nichts getan, um ihn zu ermutigen. Oder etwa doch?
Nein, du hast dich nur von dem kleinen Scheißer zum Abendessen einladen lassen, zischt mir meine böse innere Stimme zu.
Ich gehe auf Ranald zu, eher wütend als verängstigt.
„Soll das heißen, du machst das alles hie r …“, ich schwenke meine Arme im Raum herum, „nur weil ich irgendwie deine Gefühle verletzt habe?“
„Irgendwie?“, schreit er los, außer sich vor Wut. „ Clementia wäre ein besseres Passwort gewesen als Misericordia. Oder hast du vergessen, dass ich Latein kann? Du hast behauptet, du kannst es nich t – kein einziges Wort. Auch so eine Lüge. Und wie erklärst du, was du auf Latein zu Franklin gesagt hast? Dass der Tod am Ende aller Dinge steht? Ich hab’s gehört! Du hast mich von Anfang an belogen.“
Er fuchtelt mit der Pistole herum und alle ducken sich schreiend, außer mir. Ich blicke ihn benommen an, während ich versuche seine Worte zu verstehen.
Sein Ton wird jetzt fast beiläufig. „ Clementia hat doch längst nicht so negative Aspekte, würde ich meinen. Clementia , die Gnade, die Nachsicht, gegenüber dem Schrei des Verdammten. Warum hast du nicht das genommen?“
„Woher weißt du mein Passwort?“, frage ich wie ein Idiot, und im selben Moment geht mir ein Licht auf. Ich hätte es merken müssen. Aber ich war so darauf versessen, Ryan zu finden, dass ich nichts mehr um mich herum wahrgenommen habe. Schließlich hat Ranald Lelas Profilseite erstellt, er hat sich für mich eingeloggt, bevor er heute Morgen auf die verdammte Toilette gegangen ist. Er kannte natürlich das Passwort, das ich ausgewählt hatte, hat es sogar für mich eingegeben, obwohl es doch streng geheim sein sollte, nur für meine Augen bestimmt. Und vor allem habe ich nie die Mail-Adresse geändert, die Ranald angegeben hatt e – seine Adresse. Ich habe sie die ganze Zeit benutzt, ohne auf die Idee zu kommen, dass er meine Nachrichten überwachen könnt e – oder dass er das wollte.
Meine Art hat sich nie mit diesen Dingen befasst, für uns ist das ein Buch mit sieben Siegeln. Ich bin vermutlich die Erste, die es fertiggebracht hat, Liebesbriefe auf einem Computer zu schreiben, noch dazu an einen praktisch Fremden.
„Ich habe jede einzelne Mail gelesen, die ihr euch geschrieben habt“, zischt Ranald. „Ich bin Software-Entwickler, verdammt noch mal. Es ist mein Job, wie ein Hacker zu denken und zu handeln. Selbst wenn du nicht so dämlich gewesen wärst, meine Mail-Adresse an deinem Konto dranzulassen, als Kontaktbörse für alle Welt, wäre ich überall reingekommen und hätte alles gecheckt. Vor mir ist nichts sicher, was du online machst. Du bist echt erbärmlich, Lela. Gehst ins Netz und spielst mit deinem Stecher auf der anderen Seite der Welt herum, und mich hältst du die ganze Zeit hin. Sind dir einheimische Männer nicht gut genug?“
Sulaiman sagt leise, als würde er nur laut denken: „Und ihre Tage sind gezählt, spricht der Her r …“
„Halt die Klappe!“, kreischt Ranald. Er fuchtelt wild mit der Pistole in Sulaimans Richtung und lässt den Hahn klicken. „Halt die Klappe, oder ich bringe dich für immer zum Schweigen, du religiöser Fanatiker!“
Mit seiner freien Hand packt Ranald mein T-Shirt und zieht mich zu dem Tisch hinüber, auf dem der Laptop steht. Er richtet die Pistole auf mich und lässt mein T-Shirt los, dann nimmt er die Kappe von dem kleinen grauen Zubehörteil, das auf dem Tisch liegt, und steckt es in einen Schlitz an der Seite des Rechners. Er klickt einen
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