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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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unvollendet, und wie unglücklich vor allem! Dass ihre Freude an ihrem eigenen Leben und an allem Geschaffenen sie vor der Härte des Daseins rettet, gebe ich zu. Aber ihre Freude würde nicht im Antlitz des Todes standhalten, und es ist keine genügende Lösung, zu leben, als ob es nicht das zu guter Letzt doch gäbe. Als ich mich von ihr trennte, habe ich mich geschämt, auch nur einen Augenblick geklagt zu haben, wo ich doch über alle Schwierigkeiten und alle Trauer hinweg, hinter der sie sich manchmal verbirgt, eine Freude verspüre, die nur schwer auszuschöpfen und allzu oft meiner Schwäche unzugänglich ist, für die man aber kein Wesen auf Erden braucht und die nicht einmal vollkommen von mir selbst abhängt. Diese Freude tut keiner anderen Sache Abbruch. Die, die ich liebe, brauchen nichts zu fürchten, ich entziehe mich ihnen nicht. Ich fühle mich in diesem Augenblick der Erde und sogar meinem eigenen Leben verhaftet wie noch nie.›
    Trotz dieses optimistischen Schlusses und trotz der etwas verkrampften Zustimmung zu Pradelles Entschluss ließ Zaza doch ihre Bitterkeit durchblicken; um ‹allem Geschaffenen› die übernatürliche Freude gegenüberzustellen, ‹für die man kein Wesen auf Erden braucht›, war es doch nötig, dass sie in dieser Welt nicht mehr endgültig auf irgendein Wesen sich vertrauensvoll stützen zu können hoffte. Ich schickte einen Rohrpostbrief an Pradelle, der ihr auch sofort schrieb; sie dankte mir: ‹Dank Ihnen bin ich am Samstag schon von den Gespenstern befreit gewesen, mit denen ich mich herumschlug›. Aber die Gespenster ließen sie nicht lange in Ruhe, und ihnen stand sie sehr allein gegenüber.
    Sogar uns beide brachte meine Sorge um sie etwas auseinander, denn ich war böse auf Pradelle, und sie beschuldigte mich, ich verkenne ihn; sie hatte den Verzicht gewählt und versteifte sich darauf, wenn ich in sie drang, dass sie sich wehren müsse. Im Übrigen hatte mir ihre Mutter das Haus in der Rue de Berri verboten; andererseits wusste sie Zaza auf jede Weise dort festzuhalten. Dennoch hatten wir bei mir zu Hause ein langes Gespräch, bei dem ich ihr von meinem eigenen Leben erzählte; sie schickte mir am nächsten Tage ein Briefchen, um mir überschwänglich zu versichern, wie glücklich sie darüber gewesen sei. Aber, fügte sie hinzu, aus Familiengründen, die sie im Augenblick nicht auseinandersetzen könne, werde sie mich eine Zeitlang nicht sehen können. ‹Warten Sie ein Weilchen ab.›
    Pradelle auf der anderen Seite hatte ihr Nachricht gegeben, dass sein Bruder sich eingeschifft habe und dass eine Woche lang die Sorge, seine Mutter zu trösten, ihn ganz in Anspruch nehmen werde. Auch diesmal noch tat sie so, als finde sie natürlich, dass er nicht zögerte, wiederum sie zu opfern; ich war aber sicher, dass erneut Zweifel an ihr nagten, und sehr betrübt darüber, dass acht Tage lang keine Stimme den ‹düsteren Warnungen› Schach bieten würde, die ihr Madame Mabille so reichlich zuteilwerden ließ.
    Zehn Tage darauf traf ich sie zufällig bei ‹Poccardi›; ich war zum Lesen in die Nationale gegangen, und sie machte Einkäufe in der Gegend; ich begleitete sie. Zu meiner großen Überraschung strömte sie über vor Heiterkeit. Sie hatte viel nachgedacht im Laufe dieser einsamen Woche, und allmählich hatte sich alles in ihrem Kopf und in ihrem Herzen zurechtgerückt: Selbst ihre Abreise nach Berlin erschreckte sie nicht mehr. Sie würde Muße haben, sie würde versuchen, den Roman zu schreiben, an den sie seit langem schon dachte, sie würde sehr viel lesen: Noch niemals hatte sie einen solchen Durst nach Lektüre verspürt. Sie hatte gerade Stendhal mit Bewunderung wiederentdeckt. Ihre Familie lehnte ihn so kategorisch ab, dass es ihr bislang nie gelungen war, über diese Voreingenommenheit völlig hinwegzukommen: Aber als sie ihn in diesen letzten Tagen wiederlas, hatte sie ihn endlich verstanden und vorbehaltlos zu lieben angefangen. Sie verspürte das Bedürfnis in sich, eine große Zahl ihrer Urteile zu revidieren: Sie hatte den Eindruck, dass ernstlich eine neue Entwicklungsphase in ihr begonnen habe. Sie sprach zu mir mit fast unnatürlicher Wärme und Überschwänglichkeit; ihrem Optimismus haftete etwas Krampfhaftes an. Dennoch freute ich mich: Sie hatte neue Kräfte gefunden, und es schien, als sei sie auch auf dem Wege, mir wieder viel näherzukommen. Mit einem Herzen voller Hoffnung sagte ich ihr Lebewohl.
    Vier Tage darauf bekam ich ein
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