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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Autoren: Julianna Baggott
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wirbeln ein wenig Asche auf. Die wirbelnde Asche – sie ist nicht nur schlimm. Sie können sehr schön sein, die kleinen Wirbel. Sie will die Schönheit nicht sehen, aber es passiert einfach. Sie findet überall kleine Momente der Schönheit – selbst im Abscheulichen. Die Schwere der über den Himmel ziehenden Wolken mit ihren manchmal dunkelblau schimmernden Rändern. Immer noch steigt Tau vom Boden auf und bildet auf geschwärzten Gräsern Perlen.
    Ihr Großvater sieht zur Hintertür hinaus, und sie schiebt den Schmetterling in den Sack. Sie benutzt ihre Aufziehspielzeuge als Tauschmittel, seit die Leute nicht mehr zu Großvater zum Nähen kommen.
    »Weißt du, wir haben wirklich Glück, dass wir diese Unterkunft gefunden haben – und jetzt auch einen Fluchtweg«, sagt ihr Großvater in diesem Moment. »Wir hatten von Anfang an Glück. Glück, dass ich frühzeitig am Flughafen war, um dich und deine Mutter bei der Gepäckausgabe abzuholen. Was, wenn ich nicht gehört hätte, dass es einen Stau gibt? Wenn ich nicht rechtzeitig losgefahren wäre? Und deine Mutter – sie war so wunderschön«, sagt er. »So jung.«
    »Ich weiß, ich weiß«, sagt Pressia, bemüht, ihre Ungeduld nicht zu zeigen. Es ist eine abgedroschene Rede. Er spricht von dem Tag, an dem die Bomben fielen, vor etwas mehr als neun Jahren. Damals war sie sieben Jahre alt. Ihr Vater war auf einer Geschäftsreise. Er war Architekt gewesen und blond und ging über den großen Onkel, wie ihr Großvater gerne erzählte, aber er war auch ein guter Quarterback. Football – das war ein sauberer Sport gewesen, gespielt auf einem Rasen, mit Helmen auf den Köpfen und Schiedsrichtern, die auf Trillerpfeifen geblasen und bunte Taschentücher geworfen hatten. »Aber was bedeutet es schon, dass mein Vater über den großen Onkel ging und Quarterback war, wenn ich mich nicht an ihn erinnern kann? Was ist eine wunderschöne Mutter wert, wenn man nicht mehr weiß, wie sie aussah?«
    »Sag das nicht«, ermahnt er sie. »Selbstverständlich erinnerst du dich an sie.«
    Sie kann nicht mehr unterscheiden zwischen den Geschichten, die ihr Großvater ihr erzählt hat, und ihren eigenen Erinnerungen. Gepäckausgabe beispielsweise. Ihr Großvater hat es wieder und immer wieder erklärt – Koffer mit Rädern, ein Laufband, Sicherheitsleute, die es umkreisten wie Hütehunde – doch ist das eine Erinnerung? Ihre Mutter wurde von einer Fensterscheibe mit voller Wucht erwischt und war auf der Stelle tot, hat ihr Großvater erzählt. Hat Pressia eine reale Erinnerung daran? Oder auch nur eine Vorstellung? Ihre Mutter war Japanerin, was Pressias schwarzes, glänzendes Haar erklärt, ihre mandelförmigen Augen und ihre ebenmäßig getönte Haut – bis auf jenes rosige, vernarbte Stück um ihr linkes Auge herum. Von der väterlichen Seite der Familie hat sie die hellen Sommersprossen geerbt. Schottisch-irisch nennt es der Großvater, doch nichts von alledem bedeutet irgendetwas. Japaner, Schotten, Iren? Die Stadt, in der ihr Vater auf Geschäftsreise gewesen war – der Rest der Welt, soweit man wusste – das alles existierte nicht mehr, war verschwunden.
    »BWI«, sagt ihr Großvater mit Nachdruck. »Das war der Name des Flughafens. Wir konnten flüchten, wie die anderen vor uns, die noch am Leben waren. Wir stolperten immer weiter auf der Suche nach einem sicheren Ort. Hier in dieser Stadt blieben wir. Es war nicht mehr viel übrig von der Stadt, aber sie war noch da, wegen der Nähe zum Kapitol. Ein wenig westlich von Baltimore, nördlich von D. C.« Auch diese Worte haben keine Bedeutung für Pressia. BWI, D. C. – nichts als Buchstaben.
    Dass sie ihre Eltern nicht kennt, bringt sie fast um, und wenn sie ihre Eltern nicht kennt, wie kann sie dann sich selbst kennen? Manchmal fühlt sie sich wie von der Welt abgeschnitten, als würde sie schweben – ein kleiner leuchtender Fleck aus wirbelnder Asche.
    »Micky Maus«, sagt ihr Großvater. »Erinnerst du dich nicht an Micky Maus?« Das macht ihm anscheinend am meisten zu schaffen, dass sie sich nicht an Micky Maus erinnert, an die Reise nach Disney World, von der sie damals zurückkamen. »Micky mit den großen Ohren und den weißen Handschuhen?«
    Sie geht zum Käfig von Freedle. Er ist aus alten Fahrradspeichen gemacht und einem dünnen Blech, das als Boden dient, sowie einer kleinen Metalltür, die sich nach oben schieben lässt. Im Käfig sitzt auf einer Stange Freedle, eine Zikade mit mechanischen
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