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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen
Autoren: Hermann Hesse
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Schneefelde, nahe bei Mont Crosin, hoch über dem Dorfe, dem er entronnen. Hunger fühlte er nicht, aber einen trüben, klammernden Schmerz von der Wunde. Ein leises, krankes Gebell kam aus seinem hängenden Maul, sein Herz schlug schwer und schmerzhaft und fühlte die Hand des Todes wie eine unsäg lich schwere Last auf sich drücken. Eine einzeln stehende breitästige Tanne lockte ihn; dort setzte er sich und starrte trübe in die graue Schneenacht. Eine halbe Stunde verging. Nun fi el ein mattrotes Licht auf den Schnee, sonderbar und weich. Der Wolf erhob sich stöhnend und wandte den schö nen Kopf dem Licht entgegen. Es war der Mond, der im Süd ost riesig und blutrot sich erhob und langsam am trüben Himmel höher stieg. Seit vielen Wochen war er nie so rot und groß gewesen. Traurig hing das Auge des sterbenden Tieres an der matten Mondscheibe, und wieder röchelte ein schwaches Heulen schmerzlich und tonlos in die Nacht.
    Da kamen Lichter und Schritte nach. Bauern in dicken Mänteln, Jäger und junge Burschen in Pelzmützen und mit plumpen Gamaschen stapften durch den Schnee.
    Gejauchze erscholl. Man hatte den verendenden Wolf entdeckt, zwei Schüsse wurden auf ihn abgedrückt und beide fehlten. Dann sahen sie, daß er schon im Sterben lag, und fi elen mit Stöcken und Knütteln über ihn her.
    Er fühlte es nicht mehr.
    Mit zerbrochenen Gliedern schleppten sie ihn nach 9
    St. Im mer hinab. Sie lachten, sie prahlten, sie freuten sich auf Schnaps und Kaff ee, sie sangen, sie fl uchten.
    Keiner sah die Schönheit des verschneiten Forstes, noch den Glanz der Hochebene, noch den roten Mond, der über dem Chasseral hing und dessen schwaches Licht in ihren Flintenläufen, in den Schneekristallen und in den gebrochenen Augen des er schlagenen Wolfes sich brach.
    (1903)
    Aus Kinderzeiten
    Der ferne braune Wald hat seit wenigen Tagen einen hei teren Schimmer von jungem Grün; am Lettensteg fand ich heute die erste halberschlossene Primelblüte; am feuchten klaren Himmel träumten die sanften April-wolken, und die weiten, kaum gepfl ügten Äcker sind so glänzend braun und breiten sich der lauen Luft so ver-langend entgegen, als hätten sie Sehnsucht, zu empfangen und zu treiben und ihre stum men Kräfte in tausend grünen Keimen und aufstrebenden Halmen zu erpro-ben, zu fühlen und wegzuschenken. Alles wartet, alles bereitet sich vor, alles träumt und sproßt in ei nem feinen, zärtlich drängenden Werdefi eber – der Keim der Sonne, die Wolke dem Acker, das junge Gras den Lüften ent gegen. Von Jahr zu Jahr steh ich um diese Zeit mit Ungeduld und Sehnsucht auf der Lauer, als müßte ein besonderer Au genblick mir das Wunder der Neugeburt erschließen, als müsse es geschehen, daß ich einmal, eine Stunde lang, die Off enbarung der Kraft und der Schönheit ganz sähe und be griff e und miterlebte, wie das Leben lachend aus der Erde springt und junge große Augen zum Lichte aufschlägt, Jahr für Jahr auch tönt und duftet das Wunder an mir vorbei, ge liebt und angebetet – und unverstanden; es ist da, und ich sah es nicht kommen, ich sah nicht die Hülle des Keimes brechen und den ersten zarten Quell im Lichte zittern. Blumen ste hen plötzlich allerorten, Bäume glänzen mit lichtem 11
    Laube oder mit schaumig weißer Blust, und Vögel werfen sich ju belnd in schönen Bogen durch die warme Bläue. Das Wun der ist erfüllt, ob ich es auch nicht gesehen habe, Wälder wölben sich, und ferne Gipfel rufen, und es ist Zeit, Stie fel und Tasche, Angelstock und Ru-derzeug zu rüsten und sich mit allen Sinnen des jungen Jahres zu erfreuen, das je desmal schöner ist, als es jemals war, und das jedesmal eiliger zu schreiten scheint.
    – Wie lang, wie unerschöpfl ich lang ist ein Frühling vorzeiten gewesen, als ich noch ein Knabe war!
    Und wenn die Stunde es gönnt und mein Herz guter Dinge ist, leg ich mich lang ins feuchte Gras oder klette-re den nächsten tüchtigen Stamm hinan, wiege mich im Geäste, rieche den Knospenduft und das frische Harz, sehe Zweige netz und Grün und Blau sich über mir verwirren und trete traumwandelnd als ein stiller Gast in den seligen Garten mei ner Knabenzeit. Das gelingt so selten und ist so köstlich, ein mal wieder sich dort hin-
    überzuschwingen und die klare Morgenluft der ersten Jugend zu atmen und noch einmal, für Augenblicke, die Welt so zu sehen, wie sie aus Gottes Hän den kam und wie wir alle sie in Kinderzeiten gesehen haben, da in uns selber das Wunder der Kraft und der
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