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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Autoren: Christopher Kloeble
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das Déjà-vu von etlichen Déjà-vus.
    Er dachte: Sie würden sich zunächst auf eine abgewetzte, kirschrote Chaiselongue setzen, exakt dorthin, wo sie immer gesessen hatten, und egal, was er anfassen würde, Tausende von Krümeln würden an Alberts Händen kleben bleiben, unddas würde ihn daran erinnern, dass es nun statt des Pflegers wieder an ihm war, für mindestens eine warme Mahlzeit täglich zu sorgen, Schnürsenkel zu binden, auf ordentlich geputzte Zähne zu achten, das Haus sauber zu halten. Sein Blick würde auf die an der Wand befestigte Weltkarte fallen, auf der ein grüner Filzstiftkringel, der Königsdorf markieren sollte, Bayern markierte, und er würde Fred fragen, wie es ihm gehe, worauf der natürlich antworten würde: »Ambrosisch«, um Albert im nächsten Moment zu bitten, ihm aus seinem Lieblingsbuch, dem silbernen Lexikon, vorzulesen, wie er es schon oft vor dem Schlafengehen oder der Mittagsruhe getan hatte. Fred würde sich an ihn schmiegen, seinen Kopf auf Alberts Schoß legen, die Augen schließen, und er würde sich warm anfühlen, trotz der Hitze draußen angenehm warm, und Albert würde es kaum wagen, sich zu rühren, und das Lexikon aufschlagen und irgendwo beginnen, bei
Billard
etwa, und nicht weiter kommen als bis
Bindehaut
. Fred würde schnarchen und im Schlaf noch jünger aussehen als sonst, höchstens wie Mitte vierzig. Albert würde das Lexikon zuklappen, ein Kissen unter Freds Kopf legen und eine viel zu kurze Vliesdecke über dessen viel zu lange Beine legen. In der Küche würde Albert etwas essen, seinen Magen mit dicken Scheiben Graubrot beruhigen, während er auf das von einem Sprung durchzogene und versiegelte Fenster über der Spüle blicken würde, dessen linke untere Ecke zwei spottende Buchstaben zierten,
HA
, von denen er weder wusste, wer sie hinterlassen hatte, noch wann, in denen er aber, da sie von außen ins Glas geritzt waren, nichts anderes lesen konnte als die Initialen seiner Großmutter Anni Habom, sechs winzige Kratzer nach bester Zorromanier. Albert würde sich vorbeugen, die linke Hand auf die Spüle gestützt, und das Fenster anhauchen, und in diebeschlagene Scheibe würde er seine eigenen Initialen neben die seiner Großmutter schreiben,
AD
, fingerdick. Und er würde sie verblassen sehen. Danach würde er sich in seinem Zimmer im ersten Stock vergewissern, ob im Nachtschränkchen neben dem Bett noch genügend von Freds Medikamenten vorhanden waren. Erst dann würde er sich von der durchgelegenen Matratze locken lassen und die Müdigkeit herankriechen spüren, aber nicht einschlafen können.
    Und genauso war es.
    Obwohl sich Albert die ganze Zeit über sagte, er müsse etwas Besonderes empfinden, kein Déjà-vu, eher ein Derniervu. Schließlich kam er zum letzten Mal an.

Liebste Besitze
     
    Albert hatte kaum zehn Minuten auf seinem Bett gelegen, bleiern, leer und mit einem Tuch über den Augen, weil die Sonne durch die Vorhänge schien, als würde dieser Tag niemals enden, da platzte Fred herein: »Schläfst du?«
    Albert winkte ihn zu sich   – was blieb ihm anderes übrig   –, und Fred ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen.
    »Sag mal«, Albert betrachtete sein Kinn, »wann hast du dich eigentlich zum letzten Mal rasiert?«
    Fred blinzelte. »Gestern.«
    »Bist du dir sicher?«
    Fred blinzelte wieder. »Total sicher.«
    »Hast wohl ein paar Stellen übersehen.«
    Blinzeln.
    »Frederick   …«
    »Mama sagt, ich sehe gut aus!«
    Anni brachte Fred besonders gern ins Spiel, um zu betonen, dass diese oder jene Meinung nicht etwa seinem Kopf entsprungen war, sondern dem einer wesentlich höheren Instanz. Einer Instanz, die vor sechzehn Jahren das letzte Mal etwas zu Fred gesagt hatte. Albert war damals drei Jahre alt. Seine Erinnerung an sie konnte er kaum als solche bezeichnen, manchmal kam es ihm vor, als bildete er sie sich bloß ein, weil er zu oft die zahlreichen Fotos von ihr in Freds Haus betrachtet hatte, sein Gesicht mit ihrem vergleichend, auf der Suche nach Ähnlichkeiten. Ihr hatte man nie die Finger einer Hand gezeigt. Siebzig Jahre lang hatte sie gelebt, ein von chronischem Bluthochdruck geprägtes, offenbar hartes Leben, wie die kardiologische Diagnose resümierte, und dann trat eine systolische Herzinsuffizienz auf, d.   h. eine krankhaft verminderte Pumpfunktion, d.   h. ihr Herz erlag seiner imposanten Größe, und Alberts Großmutter, sein letzter Draht zum Früher, war gestorben. So viel wusste er. In wenigen
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