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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Autoren: Christopher Kloeble
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Aktenordnern, deren Funktion in erster Linie gewesen war, das unterste Fach eines klapprigen Regals zu stützen, fand er lückenhaft geordnete Unterlagen, aus denen vor allem hervorging, dass sie nicht krankenversichert gewesen war. Offenbar hatte sie ihr Lebtag lang keinen Fuß in eine Arztpraxis oder ein Krankenhaus gesetzt.
    Albert setzte sich auf, ahmte mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere nach.
    Fred bedeckte seine stacheligen Wangen mit den Händen: »Aber mein Paps hatte einen blonden Bart!«
    Fred behauptete, sein Vater, Alberts Großvater Arkadiusz,sei Taucher gewesen. Ein Mann mit Ausnahmelunge, der unterirdische Kanalsysteme repariert hatte, der einmal ohne Hilfsmittel bis zum Grund der Ostsee getaucht war und der, als Fred kaum größer gewesen war als der Bauch, den er neun Monate lang bewohnt hatte, bei seiner Arbeit von einer Unterwasserströmung erfasst worden und für immer im weitläufigen Netzwerk der Röhren verschwunden war. Ob erfunden oder wahr, jedenfalls musste deswegen stets jemand für Fred das Klo spülen, da er sich noch mehr dagegen sträubte als gegen eine Rasur: »Mein Paps reist ewig durch die Rohre und ist mal in Amerika, mal bei den Polen und manchmal auch hier!«
    Albert stand auf, ging ins Bad und steckte den Akkurasierer in die Steckdose, und als er zurückkehrte, war Fred weg. Nachdem Albert das ganze Haus abgesucht hatte, fand er ihn im Garten in dem BMW 321.   Ein Oldtimermodell aus den späten dreißiger Jahren, das, obwohl Fred keinen Führerschein besaß, ihm angeblich gehörte. »Flitzer«, nannte ihn Fred. Das Minzgrün des Lacks wirkte, als hätte man ihn zu heiß gewaschen. Der Reifengummi hing in Fetzen. Das Hupgeräusch konnte man bestenfalls als Quengeln bezeichnen. Die aufgerauten Lederbezüge rochen   – fand Fred   – lecker muffig wie er zwischen den Zehen. Ein leerer Blumentopf hielt die Beifahrertür in den Angeln.
    Albert nahm Platz neben Fred, der am Steuer hockte. Seine Bartstoppeln glänzten im Sonnenlicht und das Lexikon ruhte in seinem Schoß. Er hatte es bei T aufgeschlagen. T wie Tod. Mit dem Zeigefinger deutete er auf die Abbildung eines Grabsteins aus Carraramarmor. »Was ist das für eine Farbe?«
    »Taubenweiß?«
    »Gibt es auch schwanenweiß?«
    »Bestimmt.«
    »Krieg ich so einen?«
    »Einen schwanenweißen Grabstein?«
    Fred nickte. »Es muss ein sehr schöner Stein sein, Albert.«
    »Abgemacht«, sagte Albert. »Ein schwanenweißer Grabstein für dich.«
    Sie schwiegen eine Weile, und während draußen der Lärm vorbeifahrender Autos auf der Hauptstraße abflaute und sie ein letztes Mal von der Sonne geblendet wurden, bevor sie ins Moor tauchte, betrachtete Fred verträumt die Abbildung des Grabsteins.
    »Alle sagen immer, Sterben ist schlimm. Ich glaube das nicht. Bestimmt ist es ganz anders. Ich stelle es mir toll vor. Wie eine Riesenüberraschung. Eigentlich freue ich mich schon darauf. Am liebsten will ich zusammen mit dir sterben, Albert. Nur wird das ziemlich schwer. Ich bin schneller.«
    Albert versprach ihm: »Werde mich beeilen«, und prompt strahlte Fred ihn an wie ein Kind   – ein in die Jahre gekommenes Kind mit Tränensäcken, grauen Schläfen und winzigen Falten um den Mund.
    Dann wich das Lächeln aus Freds Gesicht: »Mama sagt, alle Liebsten Besitze sterben irgendwann.« Diesmal war der Tonfall ganz anders, als hätte er sich erst in dieser Sekunde daran erinnert, was Sterben eigentlich bedeutete.
    »Und was soll das sein, ein Liebster Besitz?«, fragte Albert.
    Fred lachte, als hätte Albert eine unglaublich dumme Frage gestellt: »Ein Liebster Besitz kann alles sein, was es gibt!«
    »Zum Beispiel ein Vater?«
    »Ja! Oder ein Auto.«
    »Und was ist dein Liebster Besitz?«
    Fred schnaubte und verdrehte die Augen. Er streckte seinenArm aus, öffnete das Handschuhfach und entnahm ihm eine verbeulte Blechbüchse, in der etwas klapperte. Beim Öffnen des zerkratzten Deckels beugte sich Fred über die Büchse und versperrte Albert den Blick, als wolle er sich zunächst vergewissern, ob das, was er erwartete, noch da war. Dann hielt er Albert einen kastaniengroßen Stein unter die Nase, der im Abendlicht metallisch glänzte. »Nimm!«
    Seinen Gesichtsausdruck als stolz zu bezeichnen wäre untertrieben gewesen.
    Albert wog den Liebsten Besitz in der Hand, er war erstaunlich schwer und sah aus wie ein zusammengeknülltes, versteinertes Blatt sattgelben Papiers. Ihm kam ein abwegiger Gedanke, den Fred prompt aussprach:
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