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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Autoren: Christopher Kloeble
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Locken, ihre vollen Wangen, ihr Kopfschütteln   – alles war genau so, wie ich es mir Nacht für Nacht vorgestellt hatte.
    Noch immer rührte sie sich nicht von der Stelle.
    »Bekomme ich keine Umarmung?«
    Anni ging in die Hocke und legte ihre Hand auf meine: »Geht es dir gut? Was ist passiert?«
    »Eine Kugel. Direkt ins Rückenmark.«
    Sie musterte den Rollstuhl. »Wie lange wirst du ihn brauchen?«
    Ich sagte nichts und sie verstand und fiel mir um den Hals.
    Ich legte meine Arme um sie und spürte ihre Wärme. »Es hat auch sein Gutes. Hier unten entdecke ich ganz neue Perspektiven.«
    Da löste sie sich von mir und ohrfeigte mich. »Du hättest mir davon schreiben müssen!«
    »Ich hätte.«
    Und wieder umarmte sie mich, diesmal so stürmisch, dass der Rollstuhl nachgab und rückwärts rollte und wir gegen eine der Bänke prallten und lachten.
    »Ich liebe dich«, sagte ich.
    »Ich liebe dich auch«, sagte sie.
    Bei Anni klang das anders als bei mir.
    »Lass uns fortgehen«, sagte ich.
    »Wohin?«, fragte sie.
    »Ganz egal. Hauptsache weg.«
    »Du meinst, für länger? In deinem Zustand?«
    »Ich schaff das schon.«
    »Und Fred?«
    »Fred ist in Königsdorf besser aufgehoben.«
    »Ich kann ihn nicht allein lassen.«
    »Dann kommt er eben mit.«
    »Wovon sollen wir denn leben?«
    »Ich habe genug Geld.«
    »Wir können doch nicht einfach so verschwinden.«
    »Wieso nicht? Ich liebe dich«, sagte ich.
    »Ich dich ja auch«, sagte sie und küsste mich auf die Stirn, und ich hielt sie fest und küsste sie auf den Mund.
    »Bitte nicht«, sagte sie.
    »Weil du es nicht magst?«
    »Weil es nicht richtig ist.«
    »Für unsere Eltern war es das.«
    »Ja, für unsere Eltern.«
    Als ich sie noch einmal küssen wollte, wich sie zurück.
    »Ich kann nicht in deiner Nähe sein, ohne mit dir zu sein«, sagte ich schließlich.
    »Und ich kann nicht in deiner Nähe sein, wenn du mit mir sein willst«, sagte sie und schüttelte nicht einmal den Kopf.
    Wir schwiegen und sahen zum Altar und zum Boden und einander kurz in die Augen und wieder zum Altar; wir hörten uns atmen; wir warteten darauf, dass einer von uns etwas sagte.
     
    Anni schickte mir keine Briefe mehr. Ich schrieb ihr jede Woche und dachte jeden Tag an sie. Ich verfolgte den Schmerz, umarmte ihn. Abends, wenn ich mich schlafen legte und mit meinen Händen ein Bein neben dem anderen positionierte, stellte ich mir vor, Anni würde im selben Moment, nur einige Kilometer entfernt, einen Mann küssen, einen gutaussehenden, klugen, humorvollen und erfolgreichen Mann, den sie über alles liebte und der sie, während ich mühsam die Decke um meinen Körper wickelte, lachend hochhob und sie über seine Schulter warf und mit seinen gesunden Beinen ins Schlafzimmer schritt.
     
    Nach Hunderten von Briefen, die ich Anni sandte, ohne jemals eine Antwort zu bekommen, erhielt ich zwei Zeilen von ihr: »Bitte schreib mir nicht mehr. Es tut mir leid. A« Ich las die Worte immer wieder, auf der Suche nach Anhaltspunkten und Zweideutigkeiten, nach Anzeichen dafür, dass wir einander eines Tages näher sein könnten. Was mir letzten Endes alle Hoffnung raubte, war das A.   Bloß ein A war ich ihr wert, bloß ein spitzes A.
    Mein letzter Brief an sie enthielt keine Worte. Ich schickte ihr Freds Zeichnung von Minas Hand.

Alfonsa
     
    Siebenunddreißig Jahre später wunderte ich mich, wie unbemerkt siebenunddreißig Jahre hatten vergehen können. Sankt Helena war ein Ort, der einen vergessen ließ, dass dort draußen eine ganze Welt existierte. Insbesondere, wenn man, wie ich, keine Zeitung las, kein Radio hörte oder fernsah. Damit hatte ich endgültig aufgehört, als uns die Nachrichten vom Busunglück ’77 erreicht hatten. Mein Sohn Ludwig hatte zwei Menschen mit sich in den Tod gerissen. Freds Bericht im Oberlandboten las ich gar nicht erst. Ich wollte nicht an diesen Ort und diese Menschen erinnert werden. Das war nicht mehr mein Leben.
    1981 lebte ich wie ein alter Mann. Ich war ein alter Mann! Mein achtundsechzigster Geburtstag stand bevor und meine Tage glichen einander so sehr, dass allein das Wetter mir half, sie zu unterscheiden. Ich saß am Fenster und sah nach draußen, sah weiße Apfelblüten, sah, wie die Früchte gepflückt wurden und zu Boden fielen, sah die Schwestern das Laub rechen und die Eiszapfen an den Ästen wachsen.
    Nachdem Ende der sechziger Jahre die Anzahl an Patienten in Sankt Helena rapide gesunken war und ich meine letzte Hochsaison an Bestattungen
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