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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Autoren: Christopher Kloeble
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nicht zu schämen, das sei ein gutes Zeichen.
    Sie konnte nicht wissen, dass meine ewige Sehnsucht nach Nähe erst zu diesem erbärmlichen Zustand geführt hatte, in dem ich mich befand. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt, saß in einem rollbaren Stahlgerät und hatte alle Menschen, die ich liebte und geliebt hatte, verloren.
     
    Mir blieben zwei Möglichkeiten: mein Leben zu beenden oder es grundlegend zu ändern, und ich entschied mich für die zweite, weil ich, wie ich heute denke, für die andere zu feige war. Mein Entschluss lautete, mir von nun an jegliche Liebesbeziehung zu Frauen zu verbieten. So schwer es anfangs sein würde zu widerstehen, mit der Zeit würden meine Erinnerungen verblassen und mit ihnen mein Verlangen; ich würde vergessen, wie sich ein Kuss anfühlt oder die Berührung einer lieben Person oder ein warmer Körper, der sich nach dem Aufwachen an mich schmiegt. Und vielleicht würde ich so lernen, allein glücklich zu sein, und endlich Ruhe finden.
    In meinen Briefen an Anni erwähnte ich nichts von meinem Unfall und meinen nutzlos gewordenen Beinen, damit sie sich keine Sorgen machte oder gar versuchen würde, mich zu finden. Mit der Ausdehnung des Deutschen Reiches schwand die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns je wiedersahen. Ich bemühte mich zu verdrängen, wie sehr ich sie vermisste, und hielt an dem Gedanken fest, dass die wachsende Distanz zu ihr es mir wenigstens erleichterte, meinen Traum von einem erfüllten Leben ohne Frauen zu verfolgen.
    Auch meine Behinderung unterstützte dies. Frauen fühlten sich deutlich weniger zu einem Mann hingezogen, vor dem sie in die Hocke gehen mussten, um auf einer Augenhöhe mit ihm zu sein. Inzwischen war ich an der letzten Station meiner Odyssee durch die Hospitäler des Deutschen Reiches angelangt, dem Veteranenhaus Sankt Helena in Oberbayern, das von Ordensschwestern des daran angrenzenden Klosters betrieben wurde, deren Erleichterung darüber, dass wenigstens einer der pflegebedürftigen Soldaten seine Libido im Zaum halten konnte, deutlich spürbar war. Ludwig Wickenhäuser zählte zu den beliebtesten Patienten in Sankt Helena. Er glaubte an Gott, er teilte sein Wissen über Bestattungen mit ihnen, ein in diesen Zeiten überaus nützliches Wissen, er verstand ihr Bairisch und ebenso, dass sie als weibliche Wesen wahrgenommen werden wollten, wenn auch nicht in dem einen Sinne, in dem die meisten Männer weibliche Wesen wahrnahmen.
    Vermutlich lag es an diesen Eigenschaften, dass sie mich, als meine Wunden geheilt waren und ich mich längst mit meinem Dasein als ewig Sitzender abgefunden hatte und kaum mehr ihrer Hilfe bedurfte, nicht aufforderten, mein Bett zu räumen, sondern mich fragten, ob ich bei ihnen bleiben wolle.
Ich nahm ihr Angebot an und zog in ein eigens für meine Bedürfnisse eingerichtetes Zimmer im Erdgeschoss mit niedrigem Bett, extra Haltegriffen in der Badewanne und einer Rollstuhlrampe vor einem Fenster zum Obstgarten, das ich jeden Morgen als Erstes öffnete. Ich klammerte mich an den Rahmen und lehnte mich raus und roch den Duft von Apfelbäumen und dachte, an diesem Ort könnte ich lernen, nach Glück dort zu suchen, wo ich war, und nicht dort, wo ich nicht sein konnte.

Kapitulation
     
    Am 7.   Mai 1945 kapitulierte die Deutsche Wehrmacht und in der Nacht darauf ich. Es widersprach meinen Vorsätzen, in jeder Hinsicht, aber ich musste herausfinden, ob ich jenes Leben führen konnte, das mit dem Ende des Krieges plötzlich wieder möglich schien und das ich mir mehr als alles andere wünschte.
    Ich schrieb Anni und bat sie, mich zu besuchen. Natürlich ohne zu erwähnen, dass eine Reise nach Königsdorf im Rollstuhl für mich unmöglich gewesen wäre.
    Sie erreichte Sankt Helena zwei Wochen später, an einem schwülen Maimorgen. Ich wartete auf sie in der Kapelle; dort war es kühl und nicht so drückend. Ich saß im Rollstuhl vor dem Altar, als ich Schritte näher kommen hörte, eine Pause, dann erneut Schritte. Annis erstes Wort war eine Frage: »Julius?«
    Seit fünf Jahren hatte mich niemand mehr so genannt, und die letzte Person, die meinen wahren Namen verwendet hatte, war meine Schwester gewesen. Vielleicht war das ein Zeichen dafür, dachte ich, dass sie mich in mein Leben zurückholen würde?
    Ich drehte mich zu ihr um.
    Wenn die Leute sagen, jemand, dem sie jahrelang nicht begegnet sind, habe sich kaum verändert, dann ist das gelogen; sie wollen nur schmeicheln. Doch Anni hatte sich nicht verändert. Ihre
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