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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Autoren: Wibke Bruhns
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Hybris mit dem Verlust der Zukunft.
    35 kurze Jahre. Und da komme ich, das jüngste Kind dieses todgeweihten Mannes dort im Fernseher – tatsächlich im Fernseher! auf Video! –, da komme ich von einer prallbunten Reise aus dem Vorderen Orient zurück, aus einem jüdischen Land – ausgerechnet! Ich trinke Whisky – Whisky! – aus böhmischem Kristall, um mich herum Bücher, Bilder, schöne Möbel. 35 Jahre. Ich starre auf diesen Mann mit dem erloschenen Gesicht – elf Tage nach diesen Bildern wird er tot sein, aufgehängt am Fleischerhaken in Plötzensee. Ich kenne ihn nicht, nicht den Schatten einer Erinnerung gibt es in mir. Ich war ein knappes Jahr alt, als der Krieg begann. Von da an war der Vater so gut wie nie zu Hause. Aber ich erkenne mich in ihm – seine Augen sind meine Augen, ich weiß, daß ich ihm ähnlich sehe. Ich kneife mich in den Unterarm: Diese Haut gäbe es nicht ohne ihn. Ich wäre nicht ich ohne ihn. Und was weiß ich über ihn? Nichts weiß ich.
    Warum weiß ich nichts? Was bedeutet diese diffuse Familien-Übereinkunft des Nicht-Redens über all die Jahre, wieso hat niemand dem Vater hinterhergespürt? Eltern werden von Kindern gemolken: Nahrung, Wärme, Spaß, Trost, Schutz, vor allem Liebe werden abgerufen, und da der Vater in dieser Hinsicht ausschied – war es das? Das mag für mich gelten, vielleicht. Doch wie war das für die älteren Geschwister, immerhin so gut wie erwachsen, als er starb – war er für die auch kein Thema? Doch. Als Legende. Sie haben sich gewappnet mit den immer gleichen Anekdoten über den Witz des Vaters, über seine Pedanterie. Es gab stets dieses für den Vater reservierte liebevolle Gelächter.
    Aber dieser Mann da vor mir, nächtens im Fernseher, der ist keine Legende. Das ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Da steht er im großen Saal des Berliner Kammergerichts, um sich herum uniformierte Zuschauer, und er weiß, er wird binnen kurzem einen grauenhaften, jämmerlich einsamen Tod sterben. Haltung war dabei angesagt, Tapferkeit. Sie sind »männlich« gestorben, hieß es hinterher. Großer Gott! Das kann nicht sein. Jemand muß dich an die Hand nehmen, dich begleiten nicht nur in die Hinrichtungsstätte in Plötzensee. Denn bis dahin hast du gelebt – und wer weiß das noch? Wie war denn dein Leben jenseits der Gedenktafeln, die heute im Berliner Kammergericht oder im Bundesverteidigungsministerium hängen, in Plötzensee oder in Halberstadt, wie warst du jenseits der Bücher, in denen der Name auftaucht unter K wie Klamroth? Dein Tod hat mir die Wahrnehmung verstellt. Du warst nicht du – du warst immer dein Tod. Dabei bist du mehr als die sorgfältig umschiffte Schmerzzone in der Psyche meiner Mutter. Ich will dich nicht über Umwege. Ich will dich. Ich bin dein Kind. In dieser Nacht der Rückkehr aus Jerusalem habe ich mir versprochen: Ich kümmere mich um dich.
    Natürlich habe ich sie gefragt – Else habe ich gefragt, andere, die ihn noch gekannt hatten. Doch da war es schon viel zu spät, die Sprachregelung längst gefunden. Die hatte etwas zu tun mit den in staatlichen Gedenkreden apostrophierten Helden des Widerstands; dazuzugehören, und sei es auch nur als Kind, war Ehre. Privat teilte Else ihr Leben ein in vorher und nachher: Vorher war Glanz, nachher war Fron. Der Verlust des einen und die Mühsal der anderen wurden mit Haltung ertragen, die Trauer über beides dem Kind gegenüber als Tabu manifestiert. Erst Jahrzehnte später, als die Mutter längst der töchterlichen Fürsorge bedurfte, habe ich begriffen, daß sie ihr ganzes Elend abgeladen hatte bei meiner ältesten Schwester, angefangen mit der Tatsache, daß Else 1944 der 21jährigen Tochter, damals Chemie-Studentin, die Beschaffung von Gift für uns alle auftrug.
    Wenn Else erschöpft gewesen war ob meiner pubertären Renitenz, hat sie manchmal Hans Georg hervorgeholt als eine Art schwarzen Mann. »Das hättest du dich nie getraut, wenn dein Vater noch lebte«, hieß es dann, und ich habe geschnaubt vor Verachtung, wenn meine müde Mutter zu Argumenten griff, die mich nicht erreichten. Süße, hinreißende, geschundene, zermürbte Mutter – hättest du mir doch erzählt, was ich heute weiß: daß deine Ehe verschlissen war, daß der Vater dich betrogen hat, daß ihr beide Hitler angebetet habt in den ersten Jahren, du vermutlich länger als er. Daß auch du, wenn schon nicht »männlich«, wie das damals hieß, deinerseits unendlich »tapfer« warst und in dieser
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