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Meine Väter

Meine Väter

Titel: Meine Väter
Autoren: Barbara Bronnen
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mindestens ebenso beliebige und beliebte Herleitung wie das berühmte ›Findelkind‹. »Er hatte schon in der frühen Kindheit seine Eltern verloren«, schreibt Ferdinand Bronner in seinen Erinnerungen, »fremde Leute nahmen sich seiner an und ließen ihm eine gute Schulbildung angedeihen.«
    Klingt nach einem leicht kitschig veredelten Märchen: Heimatlos, die Eltern unbekannte Namenlose, der Vater ein Findelkind, seine Adoptiveltern verlorengegangen. Was war er nun, der Nachkomme ungarischer Schwaben oder einer jüdischen Sippe?
    Um ein ganzes Leben mit einer vorgegebenen Version seines Lebens zu verbringen, während man anderes weiß, dazu bedarf es einer verblüffenden Intelligenz, Kraft, Konzentration, Disziplin. Man braucht eine ungewöhnliche Selbstbeherrschung, Kohärenz und Chuzpe, muß seine Konflikte konservieren und alles auf sich selbst beziehen. Was für eine verflixte Anstrengung für Intellekt und Gefühle!
    Sollte es ihrem Großvater tatsächlich gelingen, diese Rolle durchzuhalten?
    Die Technik des Verschleierns schien mein Großvater wie
sein schreibender Sohn zu beherrschen. Aber gerade darum geht es mir: Welche Dinge verbirgt er, welche berichtet er und warum? Ich mache mir eine Liste.
    Ich lese, lerne, suche, trage Beweismaterial zusammen, halte durchgestrichene Seiten seiner Erinnerungen gegen das Sonnenlicht, um sie zu entziffern, enträtsle alte Militärkarten. Ich suche den Namen, die Straße, das Haus, in dem er geboren wurde.
    Ich habe Blut geleckt.
    Er weiß, warum er so gelebt hat. Sie weiß es nicht.
    Sie ist fest entschlossen, seine zweite Existenz, das ungeschriebene Leben, zum Leben zu erwecken und ihm zu entlocken, was nicht im Buch steht. Damit wird es um so kniffliger, zu erzählen, was er nicht erzählt hat.
    Wie hat er sich sein Leben in einer antisemitischen Umwelt aufgebaut?
    Wie wird man zum perfekten Assimilanten, wie hält man das durch und wie hoch ist der Preis, den man dafür zahlt?
    Ich empfinde auch Bewunderung. Dieser Mann hat seine Erinnerungen an ein Leben niedergeschrieben, das er sich selbst entworfen hat, um dem Elend der Juden zu entkommen. Bewundernswert das zähe Durchhaltevermögen und die Kraft, mit der er sich auf arisch umpolte.
    Mit einemmal freue ich mich darüber, daß ich diese Erinnerungen besitze. Ich fühle Stolz und eine gewisse Entdeckerfreude.
    Doch Fragen über Fragen. Was empfand er, als seine Aufzeichnungen entstanden? Einen verstohlenen Gedanken an Nachruhm? War es ein Wettstreit mit seinem Sohn Arnolt, der seine Lebensgeschichte vorbereitete?
    Warum endet die Biographie gerade 1918? Warum verschweigt er die restlichen dreißig Jahre seines Lebens? Wo
stand er nach Auschwitz? Was fängt sie an mit der Behauptung, die Juden dort »blieben meist unter sich, was ihnen nur zum Vorteil gedieh«? Und en passant, als wüßte er es nicht genau, fügt er hinzu: »In späteren Jahren soll es allerdings, wie ich hörte, anders geworden sein und der Antisemitismus einen günstigen Nährboden gefunden haben.« Er schreibt, als habe das nichts mit ihm zu tun.
    Er war Schriftsteller. Für den das Wirklichkeit ist, was er schreibt.
    Um die Memoiren des Juden Ferdinand Bronner jedenfalls geht es nicht. Damit muß sie sich abfinden.
    Â 
    * * *

4. Aufbruch
    Hinter mir der Herbst, vor mir der Winter, hinter mir die Alpen, vor mir die Beskiden.
    In einer Seitenstraße des Rynek, des Marktplatzes, setzt mich der Taxichauffeur ab. Fußgängerzone mit herrlichen alten Gebäuden und Plätzen. Der Koffer holpert mit seinen vier Rollen lärmend über das Kopfsteinpflaster.
    Vor Hitler war Krakau eine pulsierende Metropole. An die sechshundert Jahre lang war Polen eines der großen Zentren jüdischen Lebens auf der ganzen Welt. Die polnische Mentalität war skeptisch und weltgewandt. Das jüdische Bürgertum glich dem Wiens – gebildete Menschen, die großartige Jugendstilhäuser bauten, die Kultur pflegten und großzügige Gesellschaften gaben, bei denen Künstler und Intellektuelle ein und aus gingen. Sie starben in Auschwitz. Die wenigen, die überlebten, sind fast alle emigriert.
    Die Stadt hat Charakter. Und Eleganz, den Deutschen abgetrotzt, die alles für die Sprengung vorbereitet hatten. Die Rote Armee rettete die alte Stadt. Krakau trägt den Graufilm auf seinen schönen Palästen mit
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