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Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Titel: Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
Autoren: Alexandra Fröhlich
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helfen kann.«
    »Deshalb bin ich ja heute gekommen.« Artjom strahlte erneut. »Bitte verzeihen Sie das schlechte Deutsch meiner Eltern. Rostislav, mein Vater, ist als Geschäftsmann hauptsächlich in Italien und der Schweiz aktiv, bisher fehlte ihm einfach die Zeit, die Sprache seines Gastlandes zu lernen. Und Darya, meine Mutter, nun ja …«, er hüstelte, »Mam ist Cellistin, ihre Sprache ist die Musik.«
    Bei der Erwähnung ihres Namens setzte sich Darya kerzengerade auf und nickte heftig, bis sich ihre Kreolen in den Haaren verfingen.
     
    Dann erzählte Artjom eine Geschichte, die so unglaublich war, dass ich sie sofort glaubte. Vor einem Jahr hatten seine Eltern eine geräumige Dreizimmerwohnung in Winterhude gemietet. Dass ihr neues Zuhause nicht wirklich im noblen Winterhude lag, sondern im angrenzenden früheren Arbeiterviertel Barmbek, wurde ihnen erst nach dem Einzug bewusst. Schon zu diesem Zeitpunkt fühlten sie sich von ihrem Vermieter arglistig getäuscht, aber da die Wohnung einen kleinen Garten hatte, der perfekt schien für die vier Hunde, fügten sie sich als friedliebende Mitmenschen in ihr Schicksal.
    Dass die Heizung im Winter nicht funktionierte, auch darüber hätte man reden können.
    Dass die Spülung versagte und die Toiletten ständig verstopften – geschenkt.
    Aber dass die Wände anfingen, Zeichen von Schimmel zu zeigen, das war letztendlich zu viel. Schimmel überträgt Krankheiten, und insbesondere der französische Pudel war ein sensibles, anfälliges Tier.
    Das Ehepaar Polyakow suchte sich eine andere Bleibe und kündigte. Die Schlüsselübergabe fand während des noch laufenden Auszugs statt, man hatte sich ein wenig mit der Zeit vertan, das kann passieren, und nachdem man im neuen Domizil Kartons und Mobiliar sichtete, stellte man fest: Etwas fehlte. Etwas Entscheidendes. Daryas Violoncello war unauffindbar.
    Nun handelt es sich bei einem Cello nicht um einen Eierbecher, der in der Aufregung eines solchen Tages leicht verlorengehen kann. Ein Versehen war ausgeschlossen. Man rief sofort Herrn Reimers an, den Vermieter, der das Gespräch nach zwei Sekunden gruß- und erklärungslos beendete. Alle nachfolgenden Kontaktaufnahmen endeten ähnlich.
     
    »Sie glauben also, dass Herr Reimers das Cello Ihrer Mutter gestohlen hat? Haben Sie das denn auch gesehen?«, hakte ich nach.
    »Gesehen nicht direkt. Aber es gibt keine andere Erklärung. Herr Reimers war der einzige Besucher an diesem Tag. Und während wir Kartons nach draußen trugen, war er mindestens zehn Minuten allein in der Wohnung«, sagte Artjom ernst.
    »Aber warum sollte Herr Reimers das Cello Ihrer Mutter stehlen?«
    »Dem Zustand seiner Wohnungen nach zu urteilen, hat er wohl Geldsorgen«, erklärte Artjom noch ernster.
    »Wie teuer ist denn das Instrument?«
    »Es ist sehr wertvoll. Unschätzbar wertvoll«, flüsterte Artjom und begann mit dem zweiten Kapitel seiner Geschichte.
     
    Daryas Violoncello war kein gewöhnliches Violoncello. Es war ein original Testore aus Mailand. Carlo Giuseppe Testore war nicht ganz so berühmt wie sein Kollege Stradivari, wurde aber in Fachkreisen mindestens ebenso verehrt. Das Instrument datierte auf 1691 , sein Boden war aus Pappelholz, die Schnecke aus Ahorn, die Zargen aus Buche – ein Meisterstück der Geigenbaukunst.
    Was das Violoncello aber so unbezahlbar machte, war nicht allein seine Herkunft, sondern auch seine Historie. Nachdem über die Jahrhunderte zahlreiche bekannte Musiker auf dem Instrument gespielt hatten, gelangte es schließlich in den Besitz von Mstislaw Rostropowitsch, dem bedeutendsten Cellisten aller Zeiten.
    Dieser Rostropowitsch verfiel mit Mitte zwanzig dem Charme Ljudmiljas, einer blutjungen, nicht untalentierten Balletttänzerin am Bolschoi-Theater. Die Affäre war ebenso leidenschaftlich wie kurz. Und auch wenn Rostropowitsch drei Jahre später die Sopranistin Galina Wischnewskaja heiratete – vergessen konnte er Ljudmilja nicht.
    Als er 1974 die Sowjetunion verlassen musste – »Stellen Sie sich vor«, Artjom lachte süffisant, »er hatte sich mit so unvernünftigen Dingen wie Demokratie und Menschenrechten beschäftigt. Weiß Gott, warum. Er hat seiner Familie damit viel Kummer bereitet. Aber da sieht man mal wieder, dass eine unerfüllte Liebe einen Mann wirklich verrückt machen kann …« Jedenfalls schickte er Ljudmilja zum Abschied sein Testore.
    Ljudmilja hütete und pflegte das Instrument im Verborgenen und erzählte niemandem von ihrem
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