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Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Titel: Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
Autoren: Alexandra Fröhlich
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Höhere-Tochter-Blick sofort –, und deshalb versuchte ich, dem Ehepaar Polyakow zu erklären, dass wir wohl einen Dolmetscher bräuchten. Nach längerem Hin und Her standen sie abrupt auf, Herr Polyakow sagte: »Wiedärkommen. Wiedärsähen.«
    Weg waren sie. Ich rechnete nicht ernsthaft mit einem Wiedärsähen. Ich irrte.
     
    Keine vierundzwanzig Stunden später kehrten sie zurück, unangemeldet. Ich versuchte noch, die Form zu wahren, und blätterte hektisch im unbefleckten Terminkalender. »Ich muss mal schauen, ob ich Sie so spontan dazwischenschieben kann …« Ich konnte.
    Das Ehepaar setzte sich vor meinen Schreibtisch, Herr Polyakow wippte vergnügt mit den Beinen, Frau Polyakowa nickte mir kurz zu, um dann etwas missmutig meine kahlen Wände zu betrachten.
    Ich räusperte mich. »Nun, wir hatten ja wegen der leichten Sprachbarriere schon bei Ihrem letzten Besuch über einen Dolmetscher gesprochen …«
    »Warten. Artjom kommt«, sagte Herr Polyakow freundlich und wippte weiter.
    Fünfundvierzig Minuten voller Schweigen zogen sich. Fünfundvierzig Minuten, in denen ich so tat, als studierte ich Akten, während ich überlegte, ob ich diese Zeit schon als Arbeitsleistung auf der Rechnung geltend machen könnte, ohne als geldgierige deutsche Schlampe dazustehen, die ausländische Mitbürger übers Ohr haut.
    Herr Polyakow wippte. Seine Gattin guckte weiter ins Nichts, durch das frisch gestrichene Weiß in eine Art Trance versetzt. So ruhig habe ich sie selten wieder erlebt.
    Dann öffnete sich die Tür, und herein trat ein Mann unbestimmbaren, aber eher mittleren Alters, von dem ich erst annahm, er müsse sich verlaufen haben. Cremefarbener Leinenanzug, ein goldenes, weit geöffnetes Hemd darunter, eine funkelnde Panzerkette auf der unbehaarten Brust, Panamahut, cremefarbene Lederhandschuhe, helle Schlangenlederboots. Ein südamerikanischer Großgrundbesitzer auf dem Weg zu einer Rinderauktion, dachte ich.
    Doch beim zweiten Blick stellte ich die Ähnlichkeit mit Frau Polyakowa fest: groß, mit der Körperspannung eines Athleten, schwarze Locken, die ihm mit scheinbar unbeabsichtigter Lässigkeit ins Gesicht fielen, eine gebogene Nase im markanten Gesicht, dunkle, melancholisch blickende Augen. Attraktiv, aber insgesamt eine leicht übertriebene Erscheinung.
    Die Erscheinung durchmaß mit zwei Schritten den Raum, und bevor ich aufstehen konnte, war sie schon hinter meinem Schreibtisch an mich herangetreten, entledigte sich ihrer Handschuhe, ergriff meine Rechte und deutete einen Handkuss an.
    Es mag sein, dass ich ein Nähe-Distanz-Problem habe, aber meines Erachtens gibt es zwischen zivilisierten Menschen unsichtbare, von allen akzeptierte Grenzen.
    In der Schlange vor dem Postschalter legt man nicht sein Kinn auf die Schulter des Vordermannes.
    An der Kasse im Supermarkt schiebt man seinen Einkaufswagen nicht in die Hacken anderer Kunden.
    Und niemals, wirklich niemals, verlässt man als Besucher unaufgefordert die Besucherseite eines Schreibtisches und entweiht die Privatsphäre des Besitzers, indem man ungeniert auf seinen Monitor starrt.
    Ich war konsterniert. Einerseits.
    Andererseits war die ganze Szene inklusive ihrer skurrilen Darsteller derart absurd, dass ich, von einem unterkühlten Lächeln abgesehen, zu keiner Abwehrreaktion imstande war.
    »Artjom. Unsärr Sonn«, sagte Herr Polyakow erklärend und stellte schlagartig sein Wippen ein.
    »Frau Matthes«, sagte Artjom und strahlte mich an, »entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Der Verkehr …«
    Welche Verspätung?, dachte ich. Wir hatten doch gar keinen Termin. Und welcher Verkehr? Es ist elf Uhr dreiundzwanzig an einem Mittwoch, da sind Staus in Eimsbüttel eher selten.
    Artjom rückte von mir ab und setzte sich zu seinen Eltern.
    »Frau Matthes«, sagte er wieder, »ich finde es großartig, dass Sie uns helfen wollen. Ich möchte Ihnen jetzt schon für Ihr Engagement danken. Wenn Sie nicht wären, wüssten wir nicht weiter.«
    Sein fließendes Deutsch hatte einen schweren, unverkennbar osteuropäischen Akzent, seine Stimme war voll und tief, versehen mit diesem Timbre, das insbesondere bei weiblichen Zuhörern durch die Ohren über den Unterleib abwärtsschießt und die Kniescheiben zum Summen bringt.
    Ich bemühte mich, das Zittern meiner Beine zu ignorieren.
    »Herr Polyakow«, erwiderte ich, »ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, aber bis dato weiß ich noch gar nicht genau, worum es eigentlich geht und ob ich Ihnen tatsächlich
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