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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)
Autoren: Uwe Steimle
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der Widersprüche? War das ein antagonistischer oder ein nichtantagonistischer Widerspruch? Diese Widerspruchsformel – war sie lösbar oder unlösbar?
    Der Widerspruch meines unmoralischen Verhaltens zu den Ansichten meiner Eltern und zu den Erwartungen, die an sie gestellt wurden, war hingegen eindeutig ein antagonistischer, also ein ganz und gar unversöhnlicher Widerspruch. Meine Eltern waren beide in der Partei, und als Mindeststrafe hätte sie ein Parteiverfahren erwartet, wenn meine schändlichen Taten ans Licht gekommen wären.
    Meine Eltern durften auch nichts von meinen Träumen wissen, die mich in das Wunderland, das Westen hieß, entführten und mir allerlei Unglaubliches vorgaukelten. Sagenumwoben und fern erschien mir damals der Westen, und markant war dieser unsagbare, unnachahmliche, unwiederbringbare Geruch.
    Ein Geruch wie, na, wie Westen eben, wie wir ihn uns vorstellten.
    Es gab kein Westfernsehen für mich. Beide Eltern in der Partei, wie gesagt. Dazu kam strafverschärfend, dass wir in Dresden lebten, im »Tal der Ahnungslosen«, wo das Westfernsehen aus empfangstechnischen Gründen stark behindert beziehungsweise ganz und gar unmöglich war.
    Ich bin mir heute sicher: Der Westen hat mich mit seinem Duft betört, eingekesselt und zermürbt. Mit der chemischen Keule der Wohlgerüche sollten wir willenlos gemacht werden.
Hätte mein Vater denn damals nichts gegen diese perfide Art der Kriegsführung unternehmen können? Er war doch bei den chemischen Truppen! Aber nein, Vati kämpfte im »Manöver Waffenbrüderschaft« für den Frieden. Weit weg an der polnischen Grenze, und wer weiß, wie es da roch?! Und wenn Vati zu Besuch nach Hause kam, alle vier Wochen – wie das schon klingt: der Vater kam zu Besuch nach Hause – dann jedenfalls wurde ich eindringlich vor dem Klassenfeind gewarnt.
    Meine Vorstellungen vom Westen waren also sehr verschwommen und verklärt. Ich besaß besagte Kaugummibilder, hatte spätbürgerliches Gedankengut, sprich Hermann Hesse und Stefan Zweig, auf Nimmerwiederbringen aus der Bibliothek ausgeliehen, und das war’s. Viel Hörensagen kam dazu. Aber ein Bild, ein Abbild vom Westen, hatte ich nicht, nur den Geruch. Und was war das für ein Geruch! Oh ja, bitte alle mal mitriechen, hinein ins Kostbarste aller Erinnerungen!
    Stammesgeschichtlich gesehen sind wir Ostler auch hier im Vorteil. Klar: Not macht erfinderisch. Und Zwang macht frei. Ganz zwangfrei reise ich nun in meinen aller-allerhintersten Stirnlappen und rieche … Fa!! Ja, Fa, nicht Anti-fa. Nur Fa, dazu Jacobs Kaffee. Sie unterliegen doch auch noch dem reißerischen Vergleich: »Jacobs?« – »Die Krönung!« »Rondo?« – »Der Gipfel!«
    Wir schweifen nicht ab vom Meer der konzentrierten Gerüche, sondern bündeln sie nur: Fa-Seife, Jacobs-Kaffee, dazu eine Prise Persil, Hitschler-Kaugummis, My Irish Moos, heute Armeleuteparfüm, damals, 1976 im Shop vom Motel Dresden, der Inbegriff des perfekten Westgeschnuppers.
    Diesen Cocktail sich bitte vor die Nase haltend, reisen Sie mit mir noch einmal zurück in das Reich der Erinnerung. Denn es freut mich, entzückt und beglückt mich ungemein, feststellen zu dürfen, dass da noch etwas ganz Entscheidendes fehlt in der Geruchserinnerungsphilosophie: der Vergleich!
    Den Osten, die »Zone«, habe ich erst nach der so genannten Wende errochen. Gewissermaßen im Umkehrschluss. Passen Sie auf! . . . Warten Sie, ich erklär’ es Ihnen: Wenn heute ein Wartburg, ein feiner Zweitakter, vor Ihnen herfährt, über den sich nur ewig Gestrige, immer irgendwie stehen gebliebene Alte, meckernd erregen – diesen einmaligen 312-er oder 311-er riechen Sie noch 10 Meter unter Wasser. Nach Tausenden und Abertausenden Zweitaktern roch damals das Land, bis wir nichts mehr rochen. Dann kam der Westen, den rochen wir wieder. Heute riecht das ganze Land nach Shop, nichts Besonderes mehr, aber einen Wartburg, den riechen wir wieder unter allem Gestank heraus. Merke: Auch die Nase braucht mal ’ne Pause. Vielleicht musste deshalb 1989 etwas Neues her. Wir hatten uns sattgerochen. Mal sehen, wie lange das hier wieder dauert, bis wir es nicht mehr riechen können …
    Das Gedächtnis sollten wir aber unter keinen Umständen verlieren, und eines dürfen wir nicht zulassen: Das Vergessen. Das wusste schon Kästner, Erich Kästner – auch Dresdner:
    »Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht und bildet die Menschen um.
    Wer das, was gut war, vergisst, wird böse.
    Wer das, was
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