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Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)

Titel: Meine Oma, Marx und Jesus Christus: Aus dem Leben eines Ostalgikers (German Edition)
Autoren: Uwe Steimle
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nur Sheriffs aus dem Wilden Westen«, wusste meine Tante stolz zu berichten.
    Die Zuckertüte war so groß, dass ich den Inhalt locker bis Weihnachten hätte strecken können, was mir aber nicht gelang. Zu verlockend waren Schokolinsen, Lakritzstangen, bunte Kokosflocken und Schokoladenmaikäfer von Elbflorenz. Sie verhießen glückliches Lernen, wäre da nicht der unendlich lange Schulweg gewesen und das gar so zeitige Aufstehen mitten in der Nacht.
    Ja, ja: halb 6 klingelte der Wecker, und die Wärmflasche war dann auch schon kalt.
    Da meine Mutti in der Feinkartonage des VEB Polypack arbeitete, war sie noch früher auf den Beinen als ich, sodass
ich im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein durchs Gausgässel musste.
    Um keinen Räubern in die Hände zu fallen, steckte ich mir beizeiten den Küchenschnitzer in die Stiefel, denn als Sheriff wusste man nie, welch Gesindel einem auf dem Schulweg auflauerte. Gerade im Winter, wenn es draußen noch stockdunkel war und die Nebelschwaden den Weg unvorhersehbar machten, musste ein Sheriff behutsam jeden Schritt bedenken. Keine 20 Meter sah ich weit. Und immer allein, denn ich war offenbar der Einzige im Rayon, der diesen Weg ging, gehen musste, und niemand beschützte mich. Keine vier Panzersoldaten und ein Hund, nicht Janek und nicht Gustlik, von Marussia ganz zu schweigen. Auch mein Vater kam mir nicht zur Hilfe, obwohl der ja auch Panzerfahrer war, aber er kam nur alle vier Wochen nach Hause, und die polnische Fernsehsendung »Vier Panzersoldaten und ein Hund« erzählte jede Woche eine neue unglaubliche Geschichte, und die 5 Helden gewannen den 2. Weltkrieg im Alleingang mit eben diesem einen Panzer.
    Vier Panzersoldaten und ein Hund, Schareck hieß der, die fuhren von Moskau bis Berlin quasi ohne Zwischenstopp, bis auf ein Mal: Da bekamen sie einen Volltreffer von den verhassten Deutschen direkt unterhalb des Turms vom T 34. Janeck wurde schwer verletzt, kam ins Lazarett und wurde von Marussia liebevoll versorgt, geküsst und betreut, ungefähr so wie beim großen ZDF-Drama »Dresden«, nur dass es zu meinen Kinderzeiten Polen waren, die sich Weltkriegsliebkosungen hingaben. Im Prinzip war der Krieg hier zu Ende, denn abgesehen von Janeck, war auch das Kanonenrohr ausgefranst und unbrauchbar, wäre da nicht Tausendsassa Gustlik auf die geniale Idee gekommen, die Säge anzusetzen, nicht irgendeine Säge, nein, eine polnische Eisensäge, und damit schnitt er den überflüssigen Stahl einfach weg, und schon
ging’s weiter nach Berlin. Warum nicht gleich so?! Schnell noch die Kette aufgezogen, und schon war man dem 8. Mai wieder ein Stück näher!
    8. Mai: Tag der Befreiung, das war exakt der Termin, an dem die vier Panzersoldaten und ein Hund Berlin zu erreichen hatten. Erst wenn sie eintrafen, würde der 2. Weltkrieg für beendet erklärt werden und die polnische Fernsehserie auch.
    Bis dahin musste ich mich mit meinem Küchenmesser wenigstens bis zur Schule durchschlagen. Ja, ich war bewaffnet, denn ich hatte Angst. Vorwärts? »Nein, rückwärts!«, schoss es mir durch den Kopf. Das war ungefährlicher. Wie die große Dampflok mit den 94 Braunkohlewaggons. Also drehte ich mich um, stieß den herbstdunstigen Waschhausnebel durch den geöffneten Mund und setzte mich langsam, aber sicher in Bewegung. Jetzt hatte ich keine Angst mehr, nicht vor dem, was unmittelbar vor mir auf dem Wege lag und schon gar nicht vor der Zukunft. Ich ging nicht zur Schule, ich fuhr zur Schule, als Lok. Mensch und Maschine verschmolzen zu einer Einheit. Später würde in den Geschichtsbüchern stehen: »Sein Weg führte Uwe rückwärts in eine lichte Zukunft.« Und falls es wider Erwarten nicht bis zum Geschichtsbuch reichen sollte, im Pionierkalender fand ich auf alle Fälle meinen Platz. Meinen festen Platz. So wie im Zeugnis. Da stand es Ende der zweiten Klasse schwarz auf weiß. Ach nee, da stand es leider umgekehrt:
    »Uwe hat immer noch keinen festen Platz im Kollektiv gefunden.« Mit anderen Worten: Ich entsprach am Ende der zweiten Klasse noch nicht dem sozialistischen Menschenbild, und auch späterhin gab es diesbezügliche Defizite.
    Ein Schwachsinn, dieser Zeugniseintrag! Wie sollte ein Kind mit acht Jahren einen festen Platz im Kollektiv gefunden haben? Furchtbar!!!
    Heute lacht man darüber, aber anno 1971 konnte so ein Zeugniseintrag einen die Goldene Eins im Straßenverkehr kosten, mindestens aber die Teilnahme an den Ferienspielen – samt Manöver Schneeflocke –
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