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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde
Autoren: Andreas Salcher
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versagt zu haben. Meine wichtigste Lektion für die Zukunft: Ich werde sehr oft Nein sagen.
    Ich habe keine Angst vor dem Versagen mehr. Mein ganzes bisheriges Leben war dominiert von der Angst vor dem Versagen. Heute habe ich doch keine Angst mehr davor, eine Aufgabe nicht zu schaffen, ich denke keine Sekunde mehr darüber nach, dass ich scheitern könnte, weil ich weiß, dass mein Leben unter normalen Umständen eigentlich schon zu Ende gewesen wäre. Als wir uns im November in New York getroffen haben, hatte die Krankheit in mir ein fast schon unheilbares Stadium erreicht. Es war eine Verkettung von glücklichen Zufällen, dass ich heute noch hier sitze. Ich brauche auf niemanden Rücksicht zu nehmen, ich brauche mich vor niemandem zu genieren. Es weiß ohnehin jeder, der mich mit meiner Wollmütze in einem Restaurant sitzen sieht, was los ist.
    Nach dem Ende der Chemotherapie beginnt ein neues Leben. Und das, was bisher war, wird ein Baustein im nächsten sein. Wie kann ich mein weiteres Leben so verändern, dass es mir, wenn ich das nächste Mal zurückschauen muss, nicht leid tun muss, was ich alles nicht getan habe? Mir wurde aber auch bewusst, dass das, was ich bisher gemacht habe, nicht umsonst gewesen sein konnte. Alles was ich mir geschaffen habe, werde ich nicht wegschmeißen, sondern das wird die Basis für die Zukunft sein. Auf dem werde ich aufbauen.“
    Die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit
    Mit Menschen, die sehr real mit der Möglichkeit ihres eigenen Todes konfrontiert werden, passiert etwas Seltsames. Es muss eine ganz andere, fundamentalere Erfahrung sein, als wenn man sich nur in seinen Gedanken mit seinem Ende auseinandersetzt. Wenn es wirklich ernst wird, ändert man als Erstes die Wahrnehmung für die Natur. Sie kehrt zurück ins Bewusstsein, obwohl sie seit unserer Kindheit ja nie verschwunden ist. Licht und Dunkel, in der Stadt ohnehin immer schwerer voneinander zu unterscheiden, werden auf einmal wieder bedeutsam, der tiefere Sinn der Geburt und des Endes eines jeden Tages dringt wieder in das Bewusstsein. Es gibt eine große Sehnsucht nach Licht und Sonne. Die Schönheit eines Baumes, der Duft einer Blume, der Geruch frischen Grases oder der Geschmack der Luft, bevor es zu schneien beginnt, der Blick in den Himmel, all jene Dinge, die man bis dahin wie eine ständig vorhandene Kulisse, vor der das eigene Leben abläuft, gar nicht wahrgenommen hat, erwachen plötzlich zum Leben. Der Weg durch die unmittelbare Umgebung erscheint verändert, jedes Haus löst sich auf einmal aus seiner fest gefügten Ordnung und erobert seine Einzigartigkeit zurück, selbst die scheinbar völlig gleichen Reihenhäuser gewinnen durch die Schuhe und Stiefel vor den Haustüren, das Kinderspielzeug, die Blumen und alle kleinen Details an Gestalt. Man spürt seinen Körper sehr präsent, vor allem die Muskeln, die man zu lange vernachlässigt hat. Man schmeckt sein Essen wieder, den Geschmack von frischem Orangensaft, den Duft von Kaffee, man erkennt wieder Süß und Sauer der Speisen, lässt sich jede Mahlzeit auf der Zunge zergehen. Ein Spaziergang durch einen Park oder das Laufen durch den Wald werden zu Ereignissen, die einen mit Freude erfüllen.
    Aber das Negative wird ebenfalls viel stärker, man hält keine verrauchten Kaffeehäuser aus, sogar wenn man selbst einmal Raucher war. Auch beim Essen nimmt man das Negative stärker wahr und lehnt bestimmte Speisen intuitiv ab. Bei den Themen, die einen beschäftigen, gibt es einen entscheidenden Wechsel. Dinge wie die eigene Karriere, eine größere Wohnung, der nächste Urlaub verlieren fast völlig an Bedeutung, dafür befasst man sich vor allem mit Gedanken an geliebte Menschen. Die Frage, ob man genug gegeben hat, beschäftigt einen sehr. Themen wie Verantwortung, Verbundenheit mit der Natur, die eigenen Werte und die Sinnfrage bemächtigen sich des Denkens.
    Warum bedarf es der Bedrohung ihres Lebens, um auch Menschen, die sich sonst wenig mit Achtsamkeit, Spiritualität und Liebe zu ihren Mitmenschen beschäftigt haben, von einer Sekunde zur anderen Zugang zu ihren inneren Möglichkeiten zu eröffnen, die sie sich sonst nur mit jahrelanger Übung hätten verschaffen können? Warum benötigen wir die Todesahnung, um das Wunder eines Sonnenaufgangs und die verklärte Schönheit eines Sonnenuntergangs wiederentdecken zu können? Auch wenn es klischeehaft klingen mag, es sind genau diese Themen und Gefühle, die ich in den vielen Gesprächen, die ich mit
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