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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde
Autoren: Andreas Salcher
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Menschen geführt habe, deren Leben ernsthaft gefährdet war, immer wieder gehört habe. Sie wiederholten stets, wie toll es sei, auf dieser Erde leben zu dürfen. Fast hatte ich den Eindruck, dass ich selbst blind und sie plötzlich sehend geworden waren, nur weil sie auf einmal verstanden, dass ihnen die Schönheit dieser Welt nur mehr sehr begrenzt offenstehen würde. Sie gehörten plötzlich einem recht exklusiven Club an, der seinen Mitgliedern gleich beim Eintritt ganz besondere Fähigkeiten verleiht, dem aber trotzdem niemand freiwillig beitreten will.
    Es ist aber keine neue Fähigkeit, sondern das Wiederentdecken von etwas, das schon immer in ihnen war, es erinnert an das Empfinden von Kindern. Ein Freund hat mir erzählt, dass er mit seinen beiden kleinen Kindern mit dem Auto noch etwas einkaufen fuhr. Er war ziemlich unter Zeitdruck, gab kräftig Gas, und als sie sich einem Bahnübergang näherten, wo die Warnanlage gelb zu blinken begann und sie zum Stehenbleiben zwang, ärgerte er sich laut: „Verdammt, das auch noch, jetzt kommen wir zu spät nach Hause.“ Einen Augenblick später riefen seine beiden Kinder ganz begeistert: „Schau, Papa, so ein Glück, wir sehen einen Zug!“ Von kleinen Kindern können wir tatsächlich lernen, das, was im Augenblick passiert, überhaupt wahrzunehmen. Als Erwachsene leben wir fast ständig in der Zukunft, die Alten hängen ihren Erinnerungen nach, für die Kinder gibt es nur die Gegenwart – die einzige Zeit, in der das Leben stattfindet. Es bedarf schon besonderer Ereignisse, um uns alle an die Gegenwart zu fesseln, zum Beispiel an jene eines Regenbogens. Fast niemand kann sich seiner Schönheit entziehen. Aber kommt der Reiz, der uns sogar veranlasst, das Auto eigens anzuhalten und ihn fast andächtig zu betrachten, nicht aus seiner Seltenheit? Würden wir nicht den Sonnenaufgang mit der gleichen Demut begrüßen, wenn dieser selten wie der Regenbogen wäre?
    Wie viele Sonnenuntergänge und andere kleine Wunder haben wir schon verpasst, weil wir auf das Ziel und nicht auf den Weg geachtet haben? Vielleicht ist es das Gefühl, sich im Einklang mit der Natur zu befinden, Teil des natürlichen Werdens und Vergehens zu sein, warum sich Menschen auf einmal so zu ihr hingezogen fühlen, sobald sie überzeugt sind, dass ihnen nur mehr eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung steht. Auf einmal verlieren die weit in der Zukunft liegenden Ziele an Bedeutung, und das, was sie unmittelbar umgibt, wird wieder sichtbar. Und fast alle bedauern, dass sie ihre Sinne nicht schon viel früher mehr genutzt und sich mit den Dingen beschäftigt haben, die ihnen jetzt auf einmal wirklich bedeutend erscheinen. – Jetzt kommt der große Punkt, der mir ein Rätsel ist, das mich eigentlich schon immer beschäftigt hat: Warum tun wir uns trotzdem so schwer damit, zu erkennen, dass der Tod auch uns betrifft?
    Jeder weiß, dass seine Zeit begrenzt ist. Auch ich weiß das, Sie wissen es, wir alle wissen es – aber wir wollen es einfach nicht glauben. Dabei ist die letzte Stunde immer da, und die Distanz zu ihr ist oft kürzer als wir vermuten, weil wir das gerne so hätten. Manchmal hängt sie nur vom Bremsweg eines fremden Autos, einer plötzlich verrückt spielenden Zelle oder dem Aufprallwinkel nach einem Sturz ab.
    Wenn ein Mensch mit 80 stirbt, dann sagt man unbewusst, na ja, es war halt Zeit. 70 ist schon ein bisschen früh, bei 60 fragt man, warum mit 60, und ein Tod mit 50 hieße … ja, das hieße, dass ich jetzt, in dem Augenblick, wo ich das schreibe, noch ein bisschen mehr als neun Monate zu leben hätte. Wäre ich in Swasiland geboren, dann wäre ich heute schon seit ziemlich genau 15 Jahren tot, denn das afrikanische Swasiland hat mit 34,1 Jahren statistisch die geringste Lebenserwartung aller Staaten. Damit hätte ich, sogar wenn ich im Mittelalter geboren worden wäre, mit den damals üblichen 35 Lebensjahren die knapp besseren Karten gezogen. Warum wird man in Swasiland geboren? Mein Freund Poldi starb mit 37 – warum mit 37?
    Denke an Deinen Tod
    Die Religionen und alten Weisheitslehren erkannten sehr früh, dass die Auseinandersetzung mit seiner Sterblichkeit für den Menschen zu wichtig ist, um diese den Zufälligkeiten des Lebens oder unseren gut entwickelten Verdrängungsmechanismen zu überlassen. Daher wurden sehr konkrete Praktiken entwickelt, die uns helfen sollen, diesen existenziellen Gedanken regelmäßig in unseren Alltag zu integrieren. Das können tägliche
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