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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde
Autoren: Andreas Salcher
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Jagd nach den vielen großen und kleinen Geschichten, dem Ausreizen der Gegensätze.
    Apropos Gegensätze: Ich bin nach Rom an die legendäre Universität „Santa Croce“ gereist, die Papst Johannes Paul II. dem Opus Dei übertragen hat. Dort habe ich mit Professoren über den Himmel, die Hölle und vor allem die Wahrheit diskutiert, denn die waren sehr überzeugt davon, die Wahrheit zu kennen. Ich habe mit dem Großmeister der deutschen Freimaurer gesprochen, um von ihm zu erfahren, was die Nichtfreimaurer von deren Ritualen über die Geheimnisse des Lebens und des Todes lernen könnten. Ich war in einem Hospiz und in einem Krankenhaus für krebskranke Kinder, um herauszufinden, ob und wie Kinder anders sterben als Erwachsene. Ich habe mit bekennenden Atheisten und Tiefgläubigen, mit Mönchen und Lebemännern lange Gespräche geführt. Manche meiner Gesprächspartner leben in den tollsten Penthäusern und andere in ganz einfachen Kommunalwohnungen, einer sogar auf der Straße. Ich habe eine Woche lang gefastet, ich habe 40 Stunden ohne Schlaf verbracht. Ich flüchtete mich in Effekthascherei und in die Suche nach prominenten Gesprächspartnern. Ich sammelte geniale Wissenschaftler, bekannte Ärzte und große Künstler und habe dabei lange jene übersehen, von denen ich viel mehr hätte lernen können. Ich war bei so viel Großartigem dabei, oder zumindest hatte ich davon gehört, ohne dass mir bewusst wurde, dass die Großartigkeit dieser Geschichten immer in den jeweiligen Personen selbst lag, und dass ich, ohne deren Erfahrung gemacht zu haben, anderen nicht einmal eine Ahnung davon vermitteln konnte. Im Kern blieb immer dieser Hauch von Fremdgeruch.
    Meine Aufmerksamkeit war fast ausschließlich auf das Laute, das Strahlende, das Spektakuläre gerichtet, dabei liegt die letzte Stunde im Leisen, im Unsichtbaren und in den Zwischentönen. Wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, gibt es Dinge, die für uns sichtbar sind: Gebäude, die Umgebung, Menschen. Wenn wir Menschen genauer anschauen, dann wissen wir, dass es Dinge gibt, die da sind, obwohl wir sie nicht sehen können: Ängste, Hoffnungen, Gefühle, Vorbehalte. Um uns und andere besser zu verstehen, müssen wir lernen, genau diese Dinge, die wir nicht sehen können, sichtbar zu machen – nicht nur bei anderen, sondern vor allem in uns selbst.
    Die Dimensionen der letzten Stunde
    Die letzte Stunde ist keine Bilanz mit Plus und Minus, sondern die Summe der Antworten auf Fragen wie „Habe ich das Beste aus meinem Leben gemacht?“ oder „Habe ich genug zurückgegeben?“. Die gute Nachricht ist, dass wir noch viele Gelegenheiten erhalten, diese Summe unseres Lebens zu erhöhen, wenn wir sie nur sehen wollen. Denn das Leben ist eine Aneinanderreihung von Möglichkeiten, die wir nutzen oder vergeben können. Es gibt leider eine negative Kraft, die uns oft daran hindert, einen Blick zu erwidern, aus dem mehr hätte werden können. Oder eine Frage im richtigen Augenblick zu stellen. Oder einem Menschen, der uns wichtig war, das zu sagen, was uns schon lange auf der Zunge lag. Noch heute ärgern wir uns manchmal darüber. Wie oft wurden wir dagegen belohnt, wenn wir unsere Furcht vor Abweisung überwunden und es einfach gewagt haben.
    Wenn wir älter werden, schaffen wir uns eine Lesebrille an, um die Zeitung noch lesen zu können. Altersweitsichtigkeit ist, wie der Name schon sagt, altersbedingt und tritt meistens zwischen dem 40. und 45. Lebensjahr auf. Auf unser Leben sollten wir dagegen unabhängig von unserem Alter jederzeit gut sehen können. Den Blick auf unsere letzte Stunde müssen wir aus der richtigen Distanz machen, weder zu scharf noch zu weich. Dieser Blick wird manchmal milder, manchmal härter ausfallen. Umso öfter sollten wir ihn wagen – solange wir es können: Die Häuser, die wir gebaut haben, die Kinder, die wir gezeugt, geboren oder verloren haben, die Erfolge, die wir erzielt haben, die vielen kleinen und großen Freuden, an die wir uns noch erinnern können, die Reisen, die geliebten Menschen, die großen Leidenschaften, die Freunde, die unerfüllten Träume, die enttäuschten Hoffnungen, Verrat und Betrug, die verpassten Gelegenheiten, das Geld, der Besitz, die Macht und der Ruhm, die wir angehäuft haben.
    War das mein Leben? Wann ist die rechte Zeit, sich diese Frage zu stellen? Mit 20, mit 30, mit 40, in der Lebensmitte, später? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass es zu spät sein kann. Ein Abendessen mit Freunden,
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