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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde
Autoren: Andreas Salcher
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unvermeidlich wurde. Sachlich teilte mir der Professor mit, dass die Symptome in Kombination mit dem Befund keine andere Alternative zuließen. Nur mühsam konnte ich mich zurückhalten, ihn mit Fragen zu bombardieren, ob er denn wirklich glaube, dass … Wie wahrscheinlich denn das Unaussprechliche in meinem Alter wäre?
    In den drei Wochen zwischen der Terminvereinbarung und der Durchführung spürte ich auf einmal alle Symptome des Darmkrebses in mir, vor allem die tiefere Gewissheit, dass etwas nicht stimmte in meinem Bauch. Überall las ich plötzlich Artikel über Darmkrebs. Der Gedanke lähmte mich völlig, ich bereute, dass ich nicht auf einem früheren Termin bestanden hatte. Ich versuchte ganz normal weiterzuleben, doch davon konnte keine Rede sein. Die Angst begann sich in meinem Kopf immer mehr auszubreiten. Die Zeit bis zur Koloskopie verging immer langsamer, sie schien stehen zu bleiben. Umso mehr sich das Unvorstellbare, dass ich von einer tödlichen grausamen Krankheit zerfressen werden könnte, in mir ausbreitete, umso größer wurde mein Wunsch, dass es noch einmal gut gehen möge. Alle meine bisherigen sehr präzisen Ziele für meine Karriere und mein Privatleben, banale Wünsche wie ein besserer Tennisspieler zu werden, wurden auf einmal unbedeutend. Auch meine kleinen Ängste und inneren Unsicherheiten wurden völlig überlagert von dieser einzigen großen Furcht. Manchmal erfasste sie meinen Magen, dann umklammerte sie mein Herz. Im Leben gibt es ein Davor und ein Danach. Die Zeit, bevor man das erste Mal die nackte Angst vor dem Tod gespürt hat, und die Zeit danach. Die Angst vor einer bösen Diagnose ist der Urknall aller noch verbliebenen Ängste in unserer Wohlstandsgesellschaft.
    Ich begann zu verhandeln, mit den mir unbekannten höheren Mächten, und wenn ich keinen Zugang zu ihnen fand, mit mir selbst. Überhaupt redete ich fast nur mehr mit mir selbst. Ich machte Versprechungen, was ich alles tun würde, wenn – ja, wenn trotz aller unheilvollen Anzeichen alles nur ein Irrtum war. In manchen Augenblicken wurde ich tief gläubig – abergläubig. Ich versuchte Zeichen zu sehen wie: „Wenn in der nächsten Stunde des Telefon läutet, dann werde ich gerettet.“ Ich fing an, mir Sorgen zu machen, ob ich denn die bestmögliche Therapie erhalten würde. Ich nahm mir vor, sollte das alles wie durch ein Wunder an mir vorbeigehen, würde ich sofort eine Zusatzversicherung abschließen. Versicherungen schließt man ja nicht ab, damit man im Schadensfall entschädigt wird, sondern damit dieser erst gar nicht eintritt. Früher versuchten die Menschen durch Opfer in Beziehung zu den höheren Mächten zu treten, auf die Götter durch Gaben und Rituale Einfluss zu nehmen, damit sie von ihrer Rache verschont blieben. Heute opfern wir, indem wir alles versichern, was wir unter keinen Umständen verlieren wollen: unser Haus, unser Auto, unsere Gesundheit, sogar unser eigenes Leben und das unserer Kinder. Schon das Wort Lebensversicherung erweckt in grotesker Weise den Eindruck, dass wir damit unser Leben sichern könnten. Vielleicht hatte ich mein Schicksal selbst herausgefordert, weil ich den Göttern meine Opfergabe verweigert hatte – ich hatte keine Zusatzversicherung abgeschlossen.
    Ich versuchte die Zeit bis zum Termin der Urteilsverkündung totzuschlagen, ging zeitig ins Bett und kam in der Früh nicht heraus, obwohl ich ganz schlecht schlief. Wie ein kleines Kind wollte ich einfach die Augen fest schließen und beim Öffnen sollte alles wieder gut sein. Ich begann Listen mit Menschen zu erstellen, die ich noch unbedingt würde treffen wollen, stellte mir vor, wie stark und mutig ich ihnen vom baldigen Ende meines Lebens erzählen würde. Manchmal konnte ich meine Tränen nicht halten, wann immer diese „Warum das mir, ich habe es doch nicht verdient“-Gefühle in mir hochkamen, um mich dann in tiefes Selbstmitleid versinken zu lassen. Viel schlimmer war die Suche nach der Ursache. Kleine Sünden wurden durch kleine Strafen gesühnt, vielleicht wurde jetzt für meine ganzen Schlechtigkeiten und Vergehen die schwerste Strafe über mich verhängt.
    Dann der Tag der Untersuchung. Ohne Narkose, ungemein schmerzhaft, um jede Schlinge meines Darms bahnte sich die Kamera den Weg. Die Ärzte sprachen in einer mir unverständlichen Sprache, ich lag auf der Seite auf dem kalten Behandlungstisch, nur mit einem offenen weißen Kittel, wie ein Opferlamm auf dem Altar der Hohepriester. Irgendwann war
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